Erwartet ein "Stakkato an Reformen": Jahrbuch-Herausgeber Andreas Khol.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Gerne wäre Andreas Khol, langjähriger ÖVP-Klubobmann und Nationalratspräsident, Bundespräsident geworden. Mit diesem Wunsch ist er 2016 gescheitert, danach hat er sich aus der Politik zurückgezogen. Nicht aber aus deren professioneller Beobachtung. Diese pflegt er als Herausgeber des "Österreichischen Jahrbuch für Politik", dessen Herausgeber er seit 44 Jahren ist. Den aktuellen Band hat Khol am Freitag vorgestellt – mit einer bitteren Bemerkung über die "Hasskultur, die wir in der Corona-Krise sehen".

Als Beleg für diese Hasskultur dienen ihm nicht nur die ausführliche Analyse des "Jahrs der Verschwörungstheorien" der Wiener Ethik-Professorin Caroline Heinrich, sondern auch seine Beobachtungen der Parlamentsarbeit, "wenn die Opposition jeden Vorschlag ablehnt".

Verständnis für Schmerzen

Dabei könne er den Schmerz besonders der Sozialdemokraten verstehen und nachvollziehen, schließlich war er Zeitzeuge der Ablösung der ÖVP-Alleinregierung des Josef Klaus durch den Sozialisten Bruno Kreisky im Jahr 1970 – ein Schock für die bis dahin erfolgsgewohnte Volkspartei, laut deren damaligen Parteistatut der Bundeskanzler dem Parteivorstand angehörte. Kreisky sei halt nie gekommen, das Recht dazu hätte er wohl gehabt.

Aber das ist Schnee von gestern. Allerdings halten sich Herausgeber und Autoren des Jahrbuchs zugute, dass sie eben Jahr für Jahr dokumentieren, was eines Tages Schnee von gestern sein wird – und sonst in der politikwissenschaftlichen Arbeit übersehen würde.

Falscher Fokus Rechtsextremismus

Denn österreichische Politik werde in der internationalen Forschung kaum beachtet, "mit der großen Ausnahme des Rechtsextremismus", wie der Grazer Politologe Klaus Poier anmerkt und ergänzt: Das Jahrbuch biete nicht nur eine Dokumentation über politische Entwicklungen, sondern auch gelebten Pluralismus.

Obwohl die Publikation auf die Ressourcen der Politischen Akademie der ÖVP zurückgreift und die Herausgeber klar konservativ verankert sind, schreiben darin immer auch Autoren aus anderen Lagern – aktuell ist etwa Nationalratspräsidentin Doris Bures gleich mit zwei Beiträgen vertreten. Und die Creme der österreichischen Innenpolitik-Journalisten (darunter STANDARD-Innenpolitik-Chef Michael Völker) denkt auch nicht daran, die große Regierungspartei zu schonen.

Scharfe Kritik an der Europapolitik

Traditionell werden nicht nur Regierungspolik und (Landtags-)Wahlen analysiert, sondern auch die Wirtschaftspolitik – Wifo-Chef Christoph Badelt ist seit mehr als 40 Jahren Stamm-Autor – und das Europa-Thema, dessen sich diesmal der Politikberater Karl Jurka angenommen hat. Jurka nennt das Jahr 2020 "Das Jahr des europäischen Desasters" und geht mit allen Beteiligten hart ins Gericht: "Die Europäische Union hat in der Krise nicht völlig, aber weitgehend versagt. Das gilt nicht nur für die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen. Das muss man auch der Ratspräsidentschaft vorwerfen, besonders der deutschen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel im zweiten Halbjahr 2020."

So hätten die Europäischen Institutionen den Grenzschließungen zur Eindämmung der Corona-Infektion lange hilflos zugesehen, obwohl diese offensichtliche Verletzungen des Schengen-Vertrags waren. Der Kommissionspräsidentin attestiert Jurka, dass sie "rhetorisch großartig" sei– ein Lob, in das er bittere Kritik verpackt: Von der Leyen habe (wie schon davor beim Wechsel aus dem deutschen Familien- in das Verteidigungsministerium) ihre eigenen Mitarbeiter mitgebracht und es verabsäumt, einen starken Generalsekretär zu installieren.

Lob der Sozialpartner

Khol selbst gibt sich trotz Kritik an der "Hasspolitik" versöhnlich und hoffnungsvoll: Erstens bewertet er positiv, dass die Regierung in der Corona-Krise die Sozialpartner wieder eingebunden hat. Und zweitens werde sich im Herbst viel ändern – nach Abflauen der Pandemie erwartet Khol "ein Stakkato an Reformen" und dass sich dann auch das politische Klima entspannen werde. (Conrad Seidl, 17.4.2021)