Bei diversen Corona-Maßnahmen-Kritiker-Manifestationen trat eine 55-jährige Angeklagte als Rednerin auf. Da sie aber auch Maskenbefreiungsatteste verkauft haben soll, sitzt sie vor Gericht.

Foto: Robert Newald

Wien – "Die Lügenpresse weiß eh schon, was sie schreibt!" oder "Eigentlich dürfte nur Servus TV da sein": Das zahlreich erschienene Publikum vor und im Verhandlungssaal 204 hat recht klare Vorstellungen, wie mediale Berichterstattung auszusehen hat. Manche haben selbstgebastelte Plakate mitgebracht, andere verkünden lautstark, dass sie durch Gottes Atem geschaffen worden seien und sich nur dem göttlichen Recht beugen würden. Soll heißen: Sie wollen die im Landesgericht für Strafsachen Wien vorgeschriebenen FFP2-Masken nicht tragen.

Der Grund des Besucherinteresses ist der Prozess gegen die 55-jährige Frau Dr. phil. S., eine laut Eigenbezeichnung "freie Therapeutin" und "Bildungswissenschafterin", die in den vergangenen Monaten immer wieder auch als Rednerin bei Veranstaltungen von, neutral formuliert, Corona-Maßnahmen-Kritikern aufgetreten ist. Sie soll aber nicht nur von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht haben – sondern zwischen Juli 2020 und Februar 2021 rund 700 "Maskenbefreiungsatteste" ausgestellt und dafür 20 bis 30 Euro Bearbeitungsgebühr verlangt haben. Ab 3. November war das aus Sicht der Staatsanwältin Kurpfuscherei und Betrug, außerdem wird S. von der Anklagebehörde vorsätzliche Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten vorgeworfen.

Vorrang für Medien und Vertrauenspersonen

Vor der Saaltür bemüht sich ein einzelner Security-Mitarbeiter, die zahlreichen Gäste auf die Hausordnung hinzuweisen. Richter Philipp Krasa zieht sich dann den Unmut von Anwesenden zu, da er von seinem Recht Gebrauch macht und als Sitzungspolizei zunächst den Medienvertretern und einer Medienvertreterin Sitzplätze zuweist und drei Plätze für Vertrauenspersonen der Angeklagten vergibt.

"Es muss im Verhandlungssaal ständig eine Maske getragen werden, auch die Nase muss bedeckt sein. Etwaige medizinische Befreiungen sind hier irrelevant, wenn es Ihnen nicht möglich ist, muss ich Sie bitten, den Saal zu verlassen", stellt Krasa klar, sobald die Plätze verteilt sind. Der stoische Richter merkt auch an, dass er keine Agitation in seinem Saal haben möchte.

Die unbescholtene Angeklagte bittet zunächst dennoch darum, ihre mechanische Schutzvorrichtung abnehmen zu dürfen: "Ich kann nicht sprechen mit Maske", behauptet sie. Krasa bietet ihr als Kompromiss die Benutzung eines justizeigenen Kunststoffvisiers an. Den goutiert S. aber auch nicht, da es die Schallwellen an ihren Ohren vorbeilenkt und sie den Richter nicht versteht, daher wechselt sie nach einigen Minuten zurück zur FFP2-Maske.

"Freie Therapeutin"

In der Sache bekennt sich S. nicht schuldig. Genauer, sie gibt zwar zu, in vorgefertigte Computerformulare die Namen der Bewerber eingetragen und diese dann verschickt zu haben. "In welcher Funktion?", will der Richter wissen. "In meiner Funktion als freie Therapeutin mit meiner weitreichenden Erfahrung mit traumatisierten Menschen." Denn, wie S. an anderer stelle anmerkt: "Der Mensch ist mehr als eine Lungenfunktion."

Und da sie bei ihren Therapien einen ganzheitlichen Ansatz verfolge, habe sie mit den Attestsuchenden teils "stundenlange Gespräche über ihre Probleme mit den Zwangsmaßnahmen geführt". S. widerspricht sich aber auch selbst. Zu Beginn ermahnt sie Richter Krasa: "Ich ersuche wirklich, die Atteste als Willensbekundungen meiner Klienten zu betrachten und nicht herabzuwürdigen." Später verwendet sie dann selbst den Begriff "Maskenbefreiungsatteste".

Die Angeklagte versucht zu argumentieren, sie habe weder vorgegeben, Medizinerin zu sein, noch dass die von ihr ausgestellten Schreiben irgendeine rechtliche Relevanz hätten. Da sie aber selbst zugibt, für 700 Bestätigungen je 20 Euro kassiert zu haben, muss der Richter auf die jüngere österreichische Innenpolitik rekurrieren: "Sie haben also 14.000 Euro bekommen. Was war jetzt Ihre Leistung? Dass Sie den jeweiligen Namen ausgebessert haben?" S. antwortet ausweichend, bleibt aber dabei, niemanden getäuscht zu haben.

Keine Infektionsfälle bekannt

Verteidiger Michael-Paul Parusel will wissen, ob seine Mandantin davon erfahren habe, ob einer ihrer maskenlosen Klienten zum Superspreader geworden sei oder sich überhaupt jemand mit Covid-19 infiziert habe? S. kennt keinen Fall.

Die Anklägerin hat einige Zeugen aufgeboten, die der Darstellung der Angeklagten widersprechen. Einen zwölfjährigen steirischen Schüler etwa, der nie mit S. gesprochen hat, da seine Eltern das Attest organisiert haben. Oder eine 23 Jahre alte oberösterreichische Verkäuferin, bei der der Lebensgefährte die Attestorganisation übernommen hat. Dieser Lebensgefährte wiederum schildert, die Angeklagte habe ihm telefonisch "zugesichert, dass das Attest gültig für mich ist". Die uniformierten Exekutivbeamten in Linz vertraten eine andere Rechtsansicht. Dieser Zeuge gibt auch zu, im Vertrauen auf das Schreiben öffentliche Verkehrsmittel stets ohne Maske benutzt zu haben.

Verteidiger Parusel erntet mit seinem Schlussplädoyer zweimal Szenenapplaus der im Saal anwesenden Vertrauenspersonen seiner Mandantin. Er spricht davon, dass Fakten und Fake-News oft schwierig auseinanderzuhalten seien, gesteht aber zu, dass Sars-CoV-2 existiere und eine Infektion gefährliche Verläufe nehmen könne. Aber: Eine FFP2-Maske halte keine Viren ab, und Erlässe und Verordnungen der Bundesregierung stünden Europäischem Recht entgegen. Für S. fordert er einen Freispruch.

Prämisse der Verteidigung "schlicht falsch"

Ein Wunsch, der sich vorerst nicht erfüllt. Krasa verurteilt S. wegen gewerbsmäßigen Betrugs und Kurpfuscherei nicht rechtskräftig zu sechs Monaten bedingter Haft, 200 Euro werden für verfallen erklärt. "Ich glaube, dass Sie das Beste für Menschen wollen", gesteht er der Angeklagten zu. Aber die Prämisse der Verteidigung "ist schlicht falsch" – natürlich würden Masken die Infektionsgefahr reduzieren.

"Ich bin mir sicher, dass Sie betrogen haben", begründet der Richter andererseits seine Schuldsprüche. Natürlich habe S. den Menschen vermittelt, sie sei berechtigt, Befreiungsatteste auszustellen, ist Krasa überzeugt. Vom Vorwurf der Krankheitsverbreitung spricht er S. aber im Zweifel frei, da die subjektive Tatseite aus seiner Sicht nicht vorhanden sei.

Sowohl Verteidigung als auch Staatsanwaltschaft nehmen sich Bedenkzeit und verlassen den Saal. Vor dem haben mittlerweile vier Polizisten den Security-Mitarbeiter verstärkt, zu Amtshandlungen wegen unbedeckter Nasen oder der Verwendung nicht zulässiger Visiere kommt es aber offenbar nicht. (Michael Möseneder, 16.4.2021)