Spitzenpolitik bedeutet psychischen Druck und physischen Stress, sagt Reinhold Mitterlehner im Gastkommentar. Im Gastkommentar blickt der frühere ÖVP-Chef zurück auf seine Zeit in der Politik. Lesen Sie dazu auch das Interview mit der früheren Grünen-Chefin Eva Glawischnig.

Politik könne einen stärken, sagt der frühere ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner. Problematisch werde es, wenn zusätzlich unsichtbare Feinde auftauchen.
Foto: Heribert Corn / https://www.corn.at

Macht Politik krank, oder – umgekehrt gedacht – wie fit und gesund muss man für die Spitzenpolitik sein, um reüssieren zu können? Das ist der Themenkomplex, der rund um den gesundheitsbedingten Rücktritt von Minister Rudi Anschober nicht nur diese Woche vielerorts diskutiert wird.

Mein Zugang ist mangels empirischer Studien ein persönlicher, einerseits resultierend aus eigener Erfahrung in rund 30 Jahren Tätigkeit auf praktisch allen Ebenen der Politik, andererseits auch durch das Miterleben von Unfall und Krankheit im Kollegenkreis und sogar einem Todesfall im Regierungsteam. Generell ist meine These, dass Politik zwar fordernder ist als viele andere Tätigkeiten, aber auch nicht "kränker" macht als andere Berufe.

Warum fordernder? Weil vor allem Spitzenpolitik – also die Ebene ab Minister oder Landeshauptmann aufwärts – ein Beruf ist, wo man praktisch rund um die Uhr im Einsatz ist oder erreichbar sein muss. Sieht man von einigen Wochen im Hochsommer ab, wo es keine Regierungssitzungen gibt, ist der Tagesablauf über Monate voll verplant, dazu kommen durch neue Ereignisse meistens Zusatztermine mit kaskadenhaften Änderungen anderer Termine. Selbst am Wochenende gibt es wichtige Veranstaltungen der Länder, und spätestens am Sonntagnachmittag beginnt die Auseinandersetzung mit Jour fixe und Terminen der nächsten Woche. Das alles erfordert volle Konzentration, dazu sollst du dem Gegenüber so entspannt begegnen, als wäre das der jeweils wichtigste Termin.

Notwendige "Selbstfürsorge"

Zum dadurch bedingten psychischen Druck kommt auch noch physischer Stress. Wir sind beispielsweise mit dem Auto pro Jahr zwischen 60.000 und 80.000 Kilometer gefahren. Fast jeder missgönnt dir das Dienstauto, wohl keiner beneidet dich, dass du eher früher als später Probleme mit dem Rücken bekommst. Jeder, der sich für die Spitzenpolitik entscheidet, sollte sich mit diesen fordernden Faktoren auseinandersetzen: Eine einigermaßen robuste Gesundheit ist eine Grundvoraussetzung. Damit diese nicht vergänglich wird, ist unbedingt Ausgleichssport einzuplanen. Bei mir war es, wenn es ging, das Mountainbike für den Körper und das Tarockieren für den geistigen Ausgleich. Gleiches gilt für die Familie. Wenn Zeit zum knappen Gut wird, geht man sorgfältig damit um: Das gemeinsame tägliche Frühstück mit den Kindern oder die Reise mit Freunden in der Osterwoche gab uns familiäre Struktur und Halt. So weit der fordernde Part der "Selbstfürsorge", der jeweils individuell gestalt- und steuerbar ist.

Die Frage, ob man den Faktor "Grundgesundheit" durch einen Check oder bei einem Antrittshearing objektivieren könnte, sehe ich eher skeptisch. Letztlich bleibt jeder Check eine Momentaufnahme mit nicht garantierter Zukunftsentwicklung und eine persönliche Selbsteinschätzung deshalb letztlich unersetzbar. Viel besser wäre die Bereitstellung eines Pools von Therapeuten und Coaches in schwierigen Situationen.

"Der Bürger möchte idealtypisch einen Politiker haben, der vorausdenkt, mutig handelt und das auch rhetorisch 'mitnehmend' und verständlich darstellen kann."

Im Jahr 1996 war ich Generalsekretär des Wirtschaftsbunds und hatte in der Nähe meines Heimatorts einen Unfall mit meinem Motorrad. Nach drei Tagen konnte ich mich aus dem Spital im Büro melden, Knie und Schulter waren malträtiert. Die Pressereferentin fragte lakonisch: "Was ist mit dem Kopf?" Das allein impliziert, dass zum Anspruchsprofil eines körperlich gesunden Spitzenpolitikers die optische Komponente in einer Zeit der Bilder durchaus hilfreich, die kognitive Anforderung allerdings unabdingbar ist. Der Bürger möchte idealtypisch einen Politiker haben, der vorausdenkt, mutig handelt und das auch rhetorisch "mitnehmend" und verständlich darstellen kann. Die beiden ersten Anforderungen können durch Werbung und Marketing noch kaschiert werden, die Fähigkeit, sich zu vermitteln, ist unabdingbar.

Stärkender Flow

In all den Jahren meiner politischen Tätigkeit war ich dankenswerterweise nie ernsthaft krank, kaum hatte ich ein wenig Zeit zum Ausspannen, war ich zumindest verkühlt. Einigen Freunden, die als Unternehmer voll im Einsatz standen, ging es genauso. Der Hausarzt meinte, so eine Erkrankung sei dem Spannungsabfall geschuldet. Tatsächlich stärkt ein unverschiebbarer Termin deine Spannung und Abwehrkraft, gibt dir eine nach Stunden positiv abgeschlossene Verhandlung, eine zustimmende Resonanz von Bevölkerung und Medien auch den notwendigen Flow. Der Körper schüttet Adrenalin aus, wenn es in einer Thematik auf Biegen und Brechen geht. Wie ein Spitzensportler, der Erfolg hat, gibt dir das Kraft und zumindest vordergründig – irgendwann vergleichst du Fotos von früher mit heute – auch Gesundheit für die nächsten Aufgaben. Also kann dich Politik sogar stärken.

Missgunst und Intrige

Natürlich ist Politik nicht nur eine Abfolge von Erfolgen. Die andere Seite der Medaille ist der Misserfolg oder das Scheitern. Mit dem lernt man meistens auch umzugehen, auch in der Privatwirtschaft gibt es Auf und Abs. Negativen Entwicklungen stellt man sich eben und versucht, Fehler nicht ein zweites Mal zu machen. Problematisch wird es dann, wenn zusätzlich unsichtbare Feinde auftauchen, nennen wir sie Missgunst und Intrige.

Ein Zeitungsartikel, eine Umfrage, eine Nichteinbeziehung, eine Kompetenzanmaßung – dann wird der politische Alltag zum Kampf gegen Windmühlen, das Nervenkostüm immer stärker strapaziert, und es steigt der Wunsch, sich das nicht mehr antun zu müssen und aussteigen zu wollen. Der Hinweis auf Familie und Gesundheit bei der folgenden persönlichen Erklärung ist dann vielleicht gar nicht zwingend ursächlich, aber ergänzend verständlich und erklärend. Niemand gesteht sich gerne ein, zu scheitern, sondern man ist durch nicht beeinflussbare Umstände am Erfolg gehindert worden. So ist halt Politik! (Reinhold Mitterlehner, 18.4.2021)