Riesige Ziegelschlote gehören zum Lokalkolorit wie die gotischen und barocken Kirchtürme im malerischen Zentrum. Seit 100 Jahren werden in Steyr Fahrzeuge gebaut.

Foto: Klaus Mader

Die Männer verfallen in Laufschritt, schlagen Haken um den Fremden mit dem Notizblock. Das spätwinterliche Schneegestöber legt eine Pause ein, als die Frühschicht um halb drei Uhr am Nachmittag zu Ende ist, dennoch wollen die meisten nur schnell zum Auto. Die einen quittieren die Bitte um ein Gespräch mit einem flüchtigen Kopfschütteln, andere werfen ein paar Satzfetzen hin. "Vor ein paar Wochen hätt ich mich jederzeit für ein Foto vors Werk gestellt", sagt ein Arbeiter, "aber jetzt will ich nicht als Erster rausfliegen. Was sich bei uns abspielt, ist der Horror."

Aus den Fugen geraten ist die alte Ordnung im Herbst der Vorjahres. Der deutsche Lkw-Produzent MAN hat angekündigt, seinen Standort in Steyr zu schließen – und so dem Herzen der Stadt einen Stich versetzt. Seit 100 Jahren werden in den "Steyr-Werken", wie mancher Ortsansässiger noch heute sagt, Fahrzeuge gebaut. Riesige Ziegelschlote gehören zum Lokalkolorit wie die gotischen und barocken Kirchtürme im malerischen Zentrum. Angst und Ärger machen sich breit, aber auch Zweifel: Haben die Leidtragenden am Ende selbst die Chance auf Rettung verspielt?

Hintertür zugeschlagen

Es war die Belegschaft, die nach Ostern eine Hintertür zugeschlagen hat. Im Einvernehmen mit MAN schickte sich der Manager Siegfried Wolf an, das Werk weiterzuführen, allerdings in abgespeckter Form. Maximal 1250 von rund 2300 Beschäftigten wollte er übernehmen, bei um 15 Prozent niedrigeren Nettolöhnen. Doch bei einer Betriebsabstimmung sagten 64 Prozent Nein – in der Hoffnung, dass MAN einlenkt, Wolf nachbessert oder doch noch ein anderer Investor mit einem üppigeren Angebot zum Zug kommt.

"Ich lass mich nicht erpressen", sagt einer von jenen, die den Wolf im Schafspelz zu erkennen glaubten. In seinen 15 Jahren im Werk sei er stets ein stolzer MANler gewesen, bis der Respekt plötzlich der Einschüchterung gewichen sei. Handlager von oben, die sich ihren Lebtag nie am Fließband blicken ließen, hätten die Mannschaft zum Ja gedrängt: "Ich erkenne meine Firma nicht wieder."

Zu vage seien die Versprechen des Investors ausgefallen, zu lausig die Konditionen. Die nach Dienstjahren gestaffelte "Übertrittsprämie" von bis zu 10.000 Euro sei ein mickriges Trostpflaster für 15 Prozent weniger Lohn, der Sozialplan für die bis Ende 2023 Gefeuerten tückisch: "Was, wenn er mich einen Monat später rausschmeißt?"

Die Arbeiter pochen auf eine umfangreichere Versicherung, die sie mit einem Wechsel zu Wolf aufgegeben hätten. Vor einem guten Jahr gab MAN für Steyr eine Standortgarantie bis 2030 – nur um diese schon nach ein paar Monaten mit dem Argument der wirtschaftlichen Zwangslage aufzukündigen. Die Gewerkschaft droht nun, im Falle einer Schließung alle Lohnansprüche einzuklagen. Doch ob das Erfolg hat, steht in den Sternen.

Ins eigene Knie geschossen

In den Rücken gefallen sei ihnen die Firma, ärgert sich einer der Arbeiter, der es auf dieses Poker ankommen ließ. Wann immer die Kollegen in Deutschland bei einer Produktion in Schwierigkeiten gerieten, seien die verlässlichen Steyrer in die Bresche gesprungen, berichtet der 27-jährige, und zum Dank solle nun zugesperrt werden. "Ich habe einen Kredit aufgenommen und ein Haus gekauft, weil ich der Garantie von MAN vertraut habe, über zehn Jahre Arbeit zu haben", sagt er: "Ich fühl mich einfach nur hintergangen."

So geht es allen, die ihrem Grant Luft machen – und doch ziehen manche völlig andere Schlüsse daraus. Besser ein schlechter bezahlter Job als gar keiner mehr, wägt ein 53-jähriger Arbeiter ab, der nach dem Wolf’schen Einschnitt noch auf 2200 Euro netto käme: "Damit kann man leben."

Aber nach einer Kündigung? Wenn ihn in seinem Alter überhaupt noch eine Firma nehme, dann sicher nicht zu diesem Gehalt, glaubt er: "Ich fürchte, die Leut haben sich mit ihrem Nein ins eigene Knie geschossen."

Das Herz habe Nein gesagt, die Vernunft hingegen Ja, outete sich ein anderer, der pro Wolf gestimmt hat: "Ich muss an meine zwei Kinder denken." Unter den Angestellten, wie er einer ist, seien viele für die Übernahme gewesen, doch der Arbeiterbetriebsrat habe mächtig Stimmung dagegen gemacht: "Die sind MAN mit dem Hintern ins Gesicht gefahren. Nun fahren die kräftig zurück."

Unweit des Werks geht eine Bürgerin noch härter mit den Hacklern ins Gericht. "Die gehen lieber stempeln, als dass sie auf Lohn verzichten", schimpft die ältere Frau vom Fenster einer Parterrewohnung auf der sogenannten Ennsleite herunter. Aber Unbescheidenheit sei eben ein Zeichen der Zeit: "Wir sind noch mit den geflickten Hosen in die Schul gegangen. Heute werden die Kinder verorscht, wenn sie nicht immer was Neues anhaben."

",Friss, Vogel, oder stirb!‘ ist mit dem Stolz der Arbeiterschaft unvereinbar": Betriebsratsmitglied Martin Schröder hat Verständnis dafür, dass sich die Belegschaft gegen eine Übernahme des MAN-Werks stemmte.
Foto: Klaus Mader

Die Arbeiter wissen sich zu wehren

"Die 15 Prozent weniger waren’s ja nicht allein", schallt es vom Gehsteig zurück, "es hätten auch viele gehen müssen." Unzählige Debatten wie diese hat Martin Schröder in den letzten Wochen geführt, wie könnte es ihm als Mitglied im Arbeiterbetriebsrat von MAN auch anders gehen. Keineswegs hätten die Belegschaftsvertreter für das Nein Stimmung gemacht, versichert der 42-Jährige, doch Verständnis dafür hat er allemal.

Wolf habe nie etwas garantiert, sondern bloß "angestrebt", 1250 Mitarbeiter zu übernehmen – derart wackeligen Zusagen zu glauben könnte sich genauso als Schuss ins Knie entpuppen. Vor allem aber habe sich im Votum der Zorn über die wortbrüchige Chefetage von MAN entladen: "Wir haben den Standortsicherungsvertrag ja nicht aus Jux und Tollerei bekommen. Als Gegenleistung produzieren wir heute pro Schicht einen Lkw zusätzlich gratis."

Dass sich die Steyrer Arbeiterschaft zu wehren weiß, ist auf der Ennsleite nicht erst seit dem Streit um MAN zu spüren. Auf der mit spektakulärem Blick auf die Altstadt ausgestatteten Anhöhe, wo andernorts Villen stehen würden, thronen einstige Werksquartiere aus der Frühzeit der Fabrik.

Schröder, ein Kind der Siedlung, erzählt von den Proletariermassen, die im Elend der Zwischenkriegszeit in Holzbaracken hausten, und von kaltschnäuzigen Direktoren: "Solange die Leut Blumen vor der Tür haben, kann es ihnen nicht so schlecht gehen." Als die Spannungen in den Februarkämpfen von 1934 gipfelten, haben die Arbeitermilizen hier oben den Minenwerfern des Bundesheeres getrotzt.

Horrorszenario

Bis heute, sagt der Gewerkschafter, sei "Friss, Vogel, oder stirb" nicht mit dem Stolz der Belegschaft vereinbar. Doch was, wenn MAN ernst macht und ersatzlos zudreht? Steyr ist zwar keine "Single-Factory-Town" mehr wie Mitte der Sechzigerjahre, als 45 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung der Stadt direkt beim Werk beschäftigt waren.

Aber ein harter Schlag wäre der Verlust von 2300 Jobs für die 38.000-Einwohner-Gemeinde allemal, und da sind die Kollateralschäden für verbundene Betriebe noch nicht eingepreist. Insgesamt 8400 Arbeitsplätze würden mit MAN untergehen, kalkuliert eine Studie der Initiative Wirtschaftsstandort Oberösterreich.

Prompt malte Investor Wolf das Horrorszenario von Steyr als alpenländischem Detroit an die Wand: eine ehemalige Motor-City im Kleinformat, geplagt von Not, Entvölkerung und Kriminalität.

Eine Etage unter der Arbeitersiedlung der Ennsleite, im Stadtzentrum am Zusammenfluss von Enns und Steyr, stößt die düstere Vision auf demonstrativen Optimismus. "Die 30er-Jahre", versichert Bürgermeister Gerald Hackl, "werden nicht wieder ausbrechen."

Die üppig ornamentierte Rokoko-Fassade des Rathauses reiht sich in die Pracht der Bürgerhäuser am Hauptplatz, doch als Gast merkt man schnell, dass hier – wie immer in der Zweiten Republik – ein Sozialdemokrat regiert. Im Kapitalismus seien solche Tragödien systemimmanent, sinniert Hackl.

Aber dass sich deutscher Player so gleichgültig gebärde wie ein amerikanischer Multi, habe ihn schon schockiert. Schließlich hat MAN erst vor eineinhalb Jahren stolz das dreißigjährige Jubiläum des Standortes Steyr gefeiert, "mit großem Pomp und allen Würdenträgern".

Manager sind Prinzessinnen

Gerald Hackl ist über die Kaltschnäuzigkeit der deutschen Manager von MAN schockiert. Doch der Bürgermeister kann wenig tun.
Foto: Klaus Mader

Die Hoffnung auf Umkehr hat der Stadtchef dennoch nicht aufgegeben. "Manager sind Prinzessinnen", sagt Hackl: Nach einem gescheiterten Plan ziehe sich so mancher erst einmal in den Schmollwinkel zurück, bevor dann doch wieder verhandelt wird.

Und wenn MAN tatsächlich nicht einlenke, werde eben ein Konkurrent das Potenzial nützen. "Wir haben eine fix und fertige Fabrik im Herzen Europas anzubieten, wo mit großem Knowhow hochwertige Produkte hergestellt werden. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass dieses Werk für immer sperrt."

Ob ein Kleinstadtbürgermeister dabei nur hilfloser Zuseher ist? Hackl, den ein Ja zum Wolf-Konzept erleichtert hätte, will erst gar nicht so tun, als habe seinesgleichen in diesem Spiel die Führerschaft inne. Die Politik könne die Leute an einen Tisch bringen, Subventionen anbieten und mit dem einen oder anderen Wink nachhelfen. Man müsse MAN schon darauf hinweisen, dass die in Steyr produzierten Lkws bei allen Anschaffungen von Kommunen in Ober- und Niederösterreich zum Zug kämen, sagt er: "Die haben hier praktisch ein Freispiel."

Kein Plan C

Bis dato geben sich die Konzernchefs in München dennoch ungerührt. Am Donnerstag hat MAN angekündigt, dass in den nächsten Wochen als Erstes die Leiharbeiter gehen müssten. Nachdem Plan A – die Übernahme – gescheitert ist, setze man strikt Plan B – die Schließung – um: "Einen Plan C gibt es nicht."

Dass das Werk in Steyr, wie von Gewerkschaft und Landesregierung behauptet, Gewinne einfahre, stimme nicht, ergänzt die MAN-Zentrale auf STANDARD-Anfrage: Die Bilanzierung falle nur dank eines Ausgleichs durch die Zentrale positiv aus. Der Konzernsprecher verweist auf die halbe Milliarde Verlust, die MAN Bus & Truck im Vorjahr insgesamt eingefahren hat: "Ein einzelner Standort kann da nicht profitabel sein."

So oder so gilt: Lassen sich die gleichen Lkws in Polen und der Türkei dank niedrigerer Lohnkosten billiger bauen, dann verspricht die geplante Verlegung in diese Länder ein konkurrenzfähigeres Produkt. Kann ein Konzern im internationalen Wettbewerb da überhaupt anders handeln?

Am Standort mit der kleinsten Rendite wird der Hebel angesetzt: Uni-Professor Jakob Kapeller sieht im Fall Steyr ein Lehrstück der allein vom Profit getriebenen Globalisierung.
Foto: Klaus Mader

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht lasse sich dem schwer widersprechen, sagt Jakob Kapeller und sieht im Fall Steyr ein Lehrstück der allein vom Profit getriebenen Globalisierung. Manager überprüften ständig, welcher Standort welche Rendite abwerfe, bei den Schlusslichter der Charts werde der Hebel angesetzt. Doch das bedeute nicht, dass sich die Gesellschaft dieser Logik unterwerfen müsse.

Aus Kapeller spricht nicht nur der Steyrer Bürger. Der Soziökonom, der in seiner Trainingsjacke mit dem Emblem des mexikanischen Fußballnationalteams so gar nichts ins Klischee des Professors passt, forscht und lehrt an der Uni Duisburg-Essen. Wegen Corona ist nun Homeoffice in Münichholz angesagt, einem weiteren historischen Arbeiterviertel der Stadt. Wobei es hier die Nationalsozialisten waren, die eine Mustersiedlung aus dem Boden gestampft haben.

Die Stadt, die sich neu erfindet

Würden beim Handel Faktoren wie Umweltschutz oder gerechte Löhne eingepreist, stiegen Standorte wie Steyr im Wettbewerb besser aus, sagt Kapeller – doch diese Umstellung sei ein europaweites Projekt.

Auf lokaler Ebene sieht er einen staatlichen Einstieg ins MAN-Werk als Möglichkeit: Die öffentliche Hand solle nicht wie einst in der verstaatlichten Industrie unhaltbare Gehälter subventionieren, sondern jenen ökologischen Wandel anstoßen, den Privatunternehmen scheuten. Innovative Hightechprodukte ließen sich auch bei hohen Lohnkosten verkaufen.

Steyr steht im Ruf, schon das eine oder andere Mal die Kurve gekratzt zu haben. Wer Zuversicht schöpfen will, kann durch den Wehrgraben spazieren, die Keimzelle der örtlichen Industrie. Am von Weiden überwucherten und blitzgrünem Wasser gespeisten Kanal standen einst Mühlen, Sägewerke und Hammerschmieden.

Mitte des 19. Jahrhunderts gründete Pionier Josef Werndl hier seine Waffenfabrik, aus der die Steyr-Werke wuchsen. Krisen und Absiedelung mündeten in einen Niedergang, doch schließlich gelang die Wende. Heute locken fein renovierte Wohnungen in die Altbauten des ehemaligen Glasscherbenviertels, eine Fachhochschule und ein Kulturzentrum ziehen junge Menschen an.

Risse durch Familien

Schon mehrmals habe es in Steyr so ausgesehen, als gehe es nicht mehr weiter, sagt Martin Hagmayr, wissenschaftlicher Leiter des in einer umfunktionierten Fabrik untergebrachten Museums Arbeitswelt, wo am 24. April die oberösterreichische Landesausstellung Arbeit Wohlstand Macht startet. Traumatisch war es für viele, als die von mächtigen Betriebsräten behütete Welt der verstaatlichten Industrie Ende der Siebzigerjahre zu zerbröseln begann.

"Umstrukturierungen" erschütterten Steyr-Daimler-Puch, wie das Werk damals hieß, Tausende verloren ihren Job. Quer durch die Familien seien die Risse gegangen, erzählt der Historiker. Während die Eltern um ihre Jobs in der Waffensparte zitterten, demonstrierten friedensbewegte Kinder gegen Panzerexporte.

Seinerzeit hat das neu gegründete BMW-Werk, das nach wie vor Motoren in Steyr baut, einiges Leid abgefangen – ein Sicherheitsnetz, wie es heute fehlt. Dennoch ist Hagmayr im Vertrauen auf den örtlichen Innovationsgeist optimistisch: "Die Steyrer Industrie hat sich immer wieder neu erfunden. Sie ist fest in der DNA der Stadt verankert."

So mancher MAN-Bediensteter, der um seinen Job bangen muss, schließt sich da an. "Ich bin jung und gut ausgebildet", sagt ein Bursch in den Zwanzigern, "ich werde schon was anderes finden." Andere Stimmen aus dem Werk hingegen berichten von verzweifelten Familienvätern, die sich fragen, wie sie ohne Arbeit ihre Schulden abstottern sollen.

Ein rasantes Auf und Ab sei sein Leben, berichtet ein Mann mittleren Alters, der erst kurz beim Unternehmen ist. Dank des soliden Gehalts von 2430 Euro netto im Monat habe er sich nach seinem Privatkonkurs vor drei Jahren aufgerappelt, sagt er. Doch kaum sei die Sonne für ihn aufgegangen, falle sie auch schon wieder vom Himmel: "Aber was soll’s. Ich bin gewohnt, in der Scheiße zu sitzen." (Gerald John, 18.4.2021)