Der Franzose Maxime Vachier-Lagrave hat beste Chancen auf das Duell mit Weltmeister Magnus Carlsen.

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So ungefähr 13 Monate ist es her, da wurde die gesamte Sportwelt vom Coronavirus in eine Zwangspause geschickt. Die gesamte Sportwelt? Nicht ganz.

Ausgerechnet ein Spiel, das manchen noch immer nicht als Sport gilt (auch wenn es nicht nur in Österreich längst als solcher anerkannt ist), weigerte sich beharrlich, vor der Pandemie in die Knie zu gehen. In Jekaterinburg, Russland, rangen damals acht unerschrockene Schachspieler um das Recht, Weltmeister Magnus Carlsen zu einem Zweikampf herausfordern zu dürfen.

Bis Wladimir Putin ihnen am 26. März 2020 durch die Ankündigung, den russischen Luftraum am Folgetag zu sperren, doch noch das Licht abdrehte: Eilig charterte der Weltschachbund Fide ein Flugzeug, um die Teilnehmer in letzter Minute in ihre Heimatländer auszufliegen. Das Kandidatenturnier wurde genau zur Halbzeit unterbrochen, der Franzose Maxime Vachier-Lagrave, auch MVL genannt, und der unaussprechliche Russe Jan Nepomnjaschtschi teilten sich die Führung im Zwischenklassement.

Anschubhilfe Lockdown

Seither ist so einiges passiert. Zum Beispiel hat sich Schach mit kräftiger Anschubhilfe durch Lockdowns sowie die irrsinnig populäre Netflix-Serie The Queen’s Gambit vom nerdig angehauchten Spezialistenhobby zur bevorzugten Freizeitbeschäftigung der Jungen und Coolen gemausert. Wohl nicht einmal zu Bobby Fischers Zeiten gab es einen vergleichbaren Schachboom. Die Zugriffszahlen auf den großen Schachservern, wo man sich rund um die Uhr mit Gegnern in passender Spielstärke messen kann, sind regelrecht explodiert. Schachbretter und -figuren waren ab Dezember nicht nur hierzulande über Monate ausverkauft, weil die Fabriken die Nachfrage nicht bedienen konnten.

Millionenpublikum

Wenn sich acht der besten Schachspieler der Welt am Montag in Jekaterinburg endlich wieder an die Bretter setzen, dann wissen sie das alles. Sie wissen auch, dass ihnen via Livestream gut und gerne ein paar Millionen Menschen aus der ganzen Welt gespannt auf die Finger schauen, von denen viele vor einem Jahr beim Wort Schachturnier noch gegähnt hätten. Es herrscht Goldgräberstimmung in der Schachwelt. Und das macht die Frage, wer dieses über ein Jahr lang unterbrochene Kandidatenturnier gewinnt und ab Ende November Magnus Carlsen über 14 Partien herausfordern darf, noch interessanter.

Die Favoriten liegen nach der ersten Turnierhälfte zurück. Carlsens Herausforderer von 2018, der Italoamerikaner Fabiano Caruana, verlor gegen den hoch gehandelten Chinesen Ding Liren, der wiederum selber schon drei Niederlagen zu Buche stehen hat.

Auf den Halbzeitführenden Maxime Vachier-Lagrave hätten dagegen nur die wenigsten getippt. Er war erst kurzfristig aufgrund der Absage von Teimur Radschabow ins Turnier nachgerückt, weil dem Aseri das Infektionsrisiko im März vergangenen Jahres zu groß für eine Teilnahme erschien. MVL packte die unverhoffte Gelegenheit beim Schopf. Der Franzose besiegte den bis dahin allein führenden Nepomnjaschtschi in Runde sieben in einer schneidigen Angriffspartie, womit er vor Wiederaufnahme wie der Mann aus Brjansk bei 4,5 Punkten aus sieben Partien notiert. Durch den Erfolg in der direkten Auseinandersetzung weist Vachier-Lagrave aus Nogent-sur-Marne die bessere Zweitwertung auf.

Heißen muss das alles noch gar nichts. Denn es werden ja von 19. bis 27. April noch einmal sieben Runden Schach gespielt, bei denen die Teilnehmer mit gegenüber der Hinrunde vertauschten Farben aufeinandertreffen. Und Kandidatenturniere sind berüchtigt dafür, in den letzten Runden, wenn nur noch der Kampf um das WM-Ticket zählt, zu Nervenschlachten zu werden. Auch der fehlgestartete Fabiano Caruana liegt wie drei seiner Kollegen mit 3,5 Punkten durchaus noch nicht aussichtslos zurück.

Kein Halten mehr

Überhaupt ist es eigentlich ein neues Turnier, das am Montag am Ural ein zweites Mal beginnt, auch wenn die Punkte aus dem Vorjahr mitgenommen werden. Diesmal wird es keinen Abbruch geben, Corona hin, russischer Luftraum her. Diesmal wird auf den schwarz-weißen Brettern, die Schachspielern die Welt bedeuten, ein neuer Kandidat für den Weltmeistertitel ermittelt. Er wird würdig und überglücklich sein. (Anatol Vitouch, 18.4.2021)