Reinhold Messner zählt zu den bekanntesten Bergsteigern und Abenteurern der Welt. Er ist bekannt für seine bahnbrechenden Besteigungen der höchsten Gipfel der Welt, bestieg als Erster allein den Mount Everest und schaffte gemeinsam mit Peter Habeler die erste Besteigung des Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff. Er war auch der erste Mensch, der die Gipfel aller 14 Achttausender erklomm.

2004 durchquerte Messner im Alleingang die Wüste Gobi.
Foto: Montblanc

In den Jahren 1989 und 1990 durchquerten Reinhold, sein Bruder Hubert und der deutsche Forscher Arved Fuchs als erste ohne Hundeschlitten oder Schneemobile die Antarktis und Grönland zu Fuß. Dazu erzählt der Südtiroler, den wir im Rahmen eines Zoom-Calls zuhause erreichten, gut gelaunt eine Anekdote: Als sie zu Silvester eine Forschungsstation der Amerikaner in der Antarktis erreichten, hätten diese ihnen zwar Unterschlupf gewährt und sie sogar den Jahreswechsel mitfeiern lassen. Ein Telefonat mit einer italienischen Expedition hätten sie ihnen aber glatt verweigert. Nur wenn sie erklärt hätten, dass ihr Abenteuer gescheitert sei, hätten sie telefonieren dürfen – und wären sogar ausgeflogen worden. Dieser Flug hätte eine halbe Million Dollar gekostet. Das kam nicht in Frage. Der 77-jährige schüttelt den Kopf: "Dabei wollte ich den Italienern nur durchsagen, dass wir uns verspäten würden und sie mit dem Boot auf uns warten sollten." Offenbar wollten die Amerikaner verhindern, dass sich noch mehr "Abenteurer" in die Antarktis verirrten ...

STANDARD: Kam es oft vor, dass Sie einen Zeitplan nicht einhalten konnten?

Messner: Bei einem Abenteuer kommt es immer auf eine gute Zeiteinteilung an. Wenn man die Antarktis durchquert, spielt der Sonnenauf- und Sonnenuntergang eine Rolle. Da bräuchte ich im Grunde keine Uhr. Bei der Arbeit … ich sage immer, ich arbeite nicht, ich lebe … bin ich der pünktlichste Mensch der Welt. Mir ist das wichtig. Deshalb brauch ich einen Zeitmesser. Ich trage seit 60 Jahren eine Uhr.

STANDARD: Was bedeutet Zeit für Sie?

Messner: Die Zeiteinteilung ist Mensch-gemacht, es gibt offenbar ein Bedürfnis danach, ein Bedürfnis nach Orientierung. Generell brauch ich eine Uhr, um objektiv zu wissen, wie viel Zeit vergangen ist. Wenn man sich dem Gipfel des Everest nähert, ohne Sauerstoffgerät, ist das gefühlt eine ewige Schinderei. Man wird immer langsamer und hat das Gefühl, dass der Gipfel, den man so unbedingt erreichen will, immer weiter in die Ferne rückt. Um das objektiv festmachen zu können, braucht man eine Uhr. Allein für die Bestätigung: Jetzt bin ich wieder zwei Stunden gegangen und immer noch nicht oben. Reicht die Zeit noch, um runterzukommen oder nicht?

"Das horizontsüchtige Suchen hat nie aufgehört" (Reinhold Messner)
Foto: Montblanc

STANDARD: Spürt man in dieser Situation auch Zeitdruck?

Messner: Dazu sollte es nie kommen. Ich bemühe mich immer vor dem geplanten Zeitpunkt oben zu sein. Bei dem Unglück am Nanga Parbat 1970 sind wir viel zu spät zum Gipfel gekommen. (Messners jüngerer Bruder Günther starb auf dieser Expedition, Anm.) Ab da habe ich mir immer gesagt: Mittags will ich umdrehen, um noch rechtzeitig ins Zelt in der oberen Sicherheitszone zurückzukommen. Wenn ich auf dem Everest auf 8.800 Metern sitzenbleibe, weil es Nacht geworden ist und kein Mond scheint, dann sehe ich nichts mehr, habe ohne Spur und ohne Seile keinerlei Orientierung. Da wird die Uhr zu einer Lebensversicherung, zu einem Werkzeug.

STANDARD: Ganz grundsätzlich: Was treibt Sie an, die Wüste Gobi (2004 war er der Erste, der sie im Alleingang über 2.000 Kilometer durchwanderte, Anm.) zu durchqueren oder den Mount Everest ohne Sauerstoffflaschen zu besteigen?

Messner: Ich bin in einem Tal aufgewachsen, wo es keine andere Möglichkeit gab die Neugierde zu befriedigen, als auf die Berge hinaufzusteigen. Ein enges Tal, kein Schwimmbad, kein Fußballplatz, eine bäuerliche Welt – meine Kindheit war einmalig, das können sich heutige Kinder gar nicht mehr vorstellen. Es gab nur das Postauto, das fuhr einmal am Tag ins Tal rein und dann wieder raus, mehr Autos gab es nicht. Ab und zu war ein Flugzeug am Himmel zu sehen. Das alles hat in mir eine Neugier darauf geweckt, was hinter den hohen Bergen liegt – und dieses horizontsüchtige Suchen hat nie aufgehört.

Reinhold Messner und Peter Habeler am Mount Everest.
Foto: imago/Bluegreen Pictures

STANDARD: Haben Sie sich deshalb auch immer neue Ziele gesetzt?

Messner: Später als erfahrener Kletterer und Bergsteiger habe ich mir die Frage gestellt, ob das, was meine hochgeschätzten Bergsteigerkollegen als unmöglich darstellten, auch wirklich unmöglich war. Ich habe mich dann wie ein Wissenschafter Schritt für Schritt an diese Grenzen herangetastet. Bis ich dann so weit war zu sagen, weiter geht’s nicht mehr, das hier ist die ultimative Grenze. Aber dann kamen Jüngere und haben auch diese Grenzen eingerissen. Und das wird auch weiterhin so sein. Beim Bergsteigen ist es so, dass die nächste Generation immer zeigen möchte, dass immer noch ein bisschen mehr möglich ist, dass die zuvor definierten Grenzen zu überwinden sind.

STANDARD: Gibt es noch eine Herausforderung, der Sie sich stellen möchten?

Messner: Ich bin ein Bergmensch. Der Herausforderung die größten Berge der Welt zu besteigen, habe ich mich gestellt und gemeistert. Danach habe ich mir neue Aufgaben gestellt, kultureller Natur. Ich habe mich den Museen gewidmet – mit genauso viel Enthusiasmus wie der Besteigung der 8.000er. Ich sehe mich jetzt als Geschichtenerzähler. Denn ich bin der Meinung, dass bei einem Abenteuer, das Tun und das Erleben nur die Hälfte ist. Die andere Hälfte ist Storytelling.

STANDARD: Wie erleben Sie die derzeitige Situation?

Messner: Für mich sind die Beschränkungen sehr hart. Ich war in Nepal und Bhutan, knapp vor der Pandemie. Dann hatte ich noch ein kleines Projekt im Norden Äthiopiens, wo man heute gar nicht mehr hinfahren könnte, um dort Bergvölker für ein Museumsprojekt zu studieren. Zurück in Europa hätte ich eine Vortragsreihe geplant. Dann kam Corona und plötzlich war alles aus. Ich musste mir eine neue Struktur schaffen. Das war hart: alle Museen zu, Vorträge und Reisen nicht mehr möglich … Die Museen führe ich zwar nicht mehr selber, sondern meine Tochter. Dennoch: Es ist ein wirtschaftliches Problem. Ich erlebe all das, was mittelständische Unternehmer zurzeit ebenfalls erleben. Ich finde das alles aber auch sehr interessant.

STANDARD: Inwiefern?

Messner: Dass dieses Virus in der Lage ist, die Menschheit Schachmatt zu setzen. Das Virus ist nicht per se böse. Es ist nur eine Naturerscheinung. Es folgt nur seinem speziellen genetischen Code. Es ist absichtslos. Es könnte sein, dass es entstanden ist, weil wir da oder dort auf unserer Erde ein Ungleichgewicht heraufbeschworen haben. Aber von den Details habe ich zu wenig Ahnung.

STANDARD: Was finden Sie noch interessant daran?

Messner: Nun sehen wir auch, wie weit die Wissenschaft, die Virologie, die Pharmakologie gekommen ist. Schon vor der Pandemie sind Milliarden in die einschlägige Forschung geflossen und trotzdem sind wir noch nicht Herr der Lage. Dass die Politik den Virologen zuhört und dann Entscheidungen treffen muss, die Wirtschaft, Gesundheit, etc. berücksichtigen sollen, das ist eine Tatsache. Dass das in demokratischen Ländern schwieriger ist als dort, wo es eine vertikale Entscheidungslinie gibt, ist auch ein Faktum. Aber jetzt zu sagen, die Politiker machen alles falsch, das ist auch zu billig. Vor allem dann, wenn man zu Tausenden ohne Maske auf der Straße herumläuft. Das Verhalten der Menschen, die damit zeigen, dass sie nicht nachdenken, mit ihren Querdenkergruppen, etc. Noch vor fünf oder zehn Jahren habe ich mich selbst als Querdenker bezeichnet. Das werde ich nie mehr tun!

STANDARD: Da Sie oft alleine unterwegs waren: Haben Sie einen Ratschlag für jemanden, der sich in der momentanen Extremsituation einsam fühlt?

Messner: Sie ist sicher leichter zu ertragen, wenn man nicht allein ist. Aber auch in Familien, die seit einem Jahr enger zusammenleben als davor, ist es bestimmt nicht immer einfach. Es entstehen naturgemäß Fliehkräfte und Reibereien. Ich habe Erfahrungen im Alleingang, bin aber nicht der Alleingänger schlechthin. Ich habe in meinen Lebensphasen immer wieder Alleingänge gemacht, um zu schauen, ob ich es auch allein kann. In der Wildnis ist es auf jeden Fall von Vorteil, zu zweit oder in einer Gruppe unterwegs zu sein.

Will sich nicht mehr Querdenker nennen: Reinhold Messner bei einem Vortrag in München 2019.
Foto: imago images / Plusphoto

STANDARD: Warum?

Messner: Zu zweit kann ich meine Ängste teilen, dann wird die Angst gleich um die Hälfte kleiner. Aber man kann auch lernen, mit sich selbst zurechtzukommen. Im Grunde kann man auch nur mit anderen zurechtkommen, wenn man gelernt hat, mit sich selbst klarzukommen. Wenn ich die anderen nur dazu benutze meine eigenen Unzulänglichkeiten zu vertuschen, kann ich im Grunde nicht leben. Wir sind soziale Wesen – und das ist die große Problematik in der Viruszeit: Dass unser Sozialleben auf fast Null geschrumpft ist. Wir haben ein Recht auf sozialen Kontakt, wir haben ein Recht auf Freiraum. Wenn ich in die archaische Natur hinausgehe, habe ich einen riesigen Raum für mich.

STANDARD: Dieser archaische Raum scheint allerdings unaufhaltsam zu schrumpfen.

Messner: Im Grunde gibt es heute keine Wildnis mehr. Es ist unglaublich: Man kann vom Weltraum aus selbst jene beobachten, die auf dem Everest stehen oder durch die Antarktis marschieren. Mit GPS kann man sich an jedem Ort der Welt orientieren. Ich kann vom Everest aus nach Hause telefonieren. Mit einem normalen Handy. Ist das dann noch Wildnis? (Markus Böhm, 26.4.2021)