Mit zuletzt über 800.000 täglichen Sars-CoV-2-Infektionen weltweit erreicht die Pandemie dieser Tage einen neuen globalen Höhepunkt. Waren die Zahlen nach den bisherigen Rekordwerten Ende Dezember mehrere Wochen lang zurückgegangen, ging die Kurve der Infektionen zuletzt wieder steil nach oben. Einen wesentlichen Beitrag dazu liefert die verheerende Entwicklung in Indien. Weit mehr als 200.000 Corona-Neuinfektionen wurden dort zuletzt innerhalb von 24 Stunden gemeldet – also deutlich mehr als ein Viertel der globalen Neuinfektionen.

Dabei hatte es lange gut ausgesehen. Noch im Jänner verkündete Gesundheitsminister Harsh Vardhan, dass Indien "die Pandemie erfolgreich eingedämmt" habe. Lange herrschte im Land die weitverbreitete Meinung, dass man das Schreckgespenst einer zweiten Welle vermieden habe. Als Gründe galten eine Kombination aus Herdenimmunität aus der ersten Welle, die um den November herum abflaute, und womöglich einer natürlichen Immunresistenz der Inder. Auch international wurde in Medien immer wieder die Frage verbreitet, wieso die Infektionszahlen in ärmeren Staaten nicht stärker steigen würden – Indien galt dabei als positives Beispiel.

Explodierende Zahlen

Doch nun ist alles anders, und die Zahlen explodieren: Dramatisch ist die Situation in Maharashtra, Indiens jedenfalls nach BIP reichstem Bundesstaat, in dem sich auch die Finanzmetropole Mumbai befindet. Dort sind die Spitäler bereits jetzt an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. In Indien, dessen Gesundheitssystem stark nach dem Einkommen unterscheidet, bedeutet das, dass Ärmere kaum noch Chancen auf angemessene Behandlung haben. Auch für Menschen aus der Mittelschicht wird es knapp – vor allem, weil angesichts der täglich steigenden Fallzahlen davon auszugehen ist, dass der Höhepunkt schwerer Erkrankungen noch längere Zeit nicht erreicht ist.

Von einem "Tsunami an Infektionsfällen, der den Bundesstaat überwältigt hat", sprach deshalb Shashank Joshi, ein Mitglied der Corona-Taskforce in Mumbai, im Gespräch mit dem britischen "Guardian". Und Joshi weiter: "Aktuell sehen wir jüngere Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, die schwer erkranken, und sogar Kinder werden mit schweren Symptomen ins Spital eingeliefert." Die Kapazitäten des Gesundheitssystems, damit zurechtzukommen, seien rapide im Schwinden.

Vielerorts fehlt der Sauerstoff. Uddhav Thackeray, Regierungschef Maharashtras, hat die Regierung aufgefordert, eine Luftbrücke für die Lieferung von Sauerstoffflaschen einzurichten. Ob das möglich sein wird, ist aber unsicher. Denn auch anderswo spitzt sich die Situation zu. In der Hauptstadt Delhi tritt mit kommendem Montag ein einwöchiger Lockdown in Kraft.

Die örtlichen Behörden haben angekündigt, die hunderttausenden Wanderarbeiter zu versorgen, die von der Hand in den Mund leben und im Lockdown weder Geld verdienen noch Nahrung kaufen können. Bei der ersten Corona-Welle im vergangenen Frühjahr waren sie in Massen in ihre Heimatorte zurückgekehrt und hatten damit wohl zur Verbreitung des Virus beigetragen.

Ingredienzien der Katastrophe

Was aber sind nun die Gründe für die katastrophale Lage? Die Behörden weisen auf eine Sorglosigkeit in der Bevölkerung hin. Sie zitieren etwa Zahlen über zehntausende Hochzeiten ohne Abstand und mit hunderten Gästen, die es seit Jahresbeginn gegeben hat. Die Regierung hat selbst aber auch das Verbot gesellschaftlicher und religiöser Großveranstaltungen, darunter der hinduistischen Feierlichkeit Kumbh Mela, aufgehoben.

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Potenzielles Superspreading-Ereignis am Ganges: Vergangenen Mittwoch versammelten sich fast eine Million Gläubige, darunter tausende "heilige Männer", in Haridwar zum rituellen Bad anlässlich des Hindu-Fests Kumbh Mela.
Foto: Reuters

Dieses größte religiöse Fest der Welt wurde zwar auf einen Monat begrenzt, doch allein am Mittwoch vergangener Woche versammelten sich in Haridwar am Ganges fast eine Million Gläubige. Erst am Samstag rief der Premier Narendra Modi dazu auf, es heuer nur "symbolisch" zu begehen.

Politische Massenveranstaltungen

Das sind aber gewiss nicht die einzigen Erklärungen. Drei Bundesstaaten – Kerala, Puducherry und Tamil Nadu – haben am 6. April Wahlen abgehalten, in allen drei Staaten haben auch die regierende BJP und Modi selbst Massenkundgebungen abgehalten, bei denen nicht auf Abstände geachtet wurde. In allen dreien stiegen zuletzt die Zahlen besonders stark. Auch im Bundesstaat Westbengalen findet derzeit ein Votum statt, die Situation dort ist ähnlich.

Wegen dieser politischen Veranstaltungen – aber auch wegen der Weigerung, religiöse Feste zu beschränken – hat sich nun in Indien auch Unmut gegen die BJP formiert. Auf Twitter kursiert der Hashtag #SuperSpreaderModi. Der oft wenig kritikfähige Premier weist seinerseits auf Massenproteste von Bauern gegen die Agrarreform hin, die bereits seit Monaten in Delhi stattfinden.

Neue "indische" Mutante

Ein anderer Grund, der auch jenseits Indiens Sorge und Verunsicherung bereitet, ist das Auftreten einer neuen Virusvariante namens B.1.617. Die neuartige Corona-Variante trägt laut der Corona-Informationsplattform outbreak.info insgesamt 13 Mutationen in sich, davon vier im sogenannten Spike-Protein. Darunter befinden sich die Mutationen L452R, E484Q und P681R, die in dieser Kombination neu sind. Was das genau bedeutet, ist noch unklar.

Der britische Mediziner Paul Hunter (University of East Anglia) warnte jedenfalls im "Guardian", dass die neue indische Variante deshalb noch problematischer sein könnte als die "südafrikanische" und die "brasilianische", die jeweils nur eine der drei Mutationen haben.

Das könnte auch bedeuten, dass die Impfungen bei B.1.617 weniger gut wirken, weil die Variante vermutlich Antikörper umgeht. Anders gesagt: Personen, die bereits einmal geimpft sind oder nur eine leichte Corona-Infektion hinter sich haben, könnten sich nochmals mit der neuen Corona-Variante anstecken, was bereits für die "südafrikanische" Mutante B.1.351 und die "brasilianische" Variante P.1 belegt ist.

"Variant of concern"?

Hunter räumte allerdings ein, dass noch weitere Untersuchungen nötig seien, um diesbezüglich bei B.1.617 sicher zu sein. Auch aus diesem Grund zögerte man in Großbritannien bisher noch, die indische Mutante offiziell als sogenannte "variant of concern" einzustufen, also als "besorgniserregend". Dass man in Großbritannien aber sehr wohl in Sorge ist, zeigte die kurzfristige Absage der Indienreise von Premier Boris Johnson.

Britische Wissenschafter hatten Johnson bereits am Wochenende dazu aufgefordert, die viertägige Reise, die am 25. April beginnen sollte, zu verschieben, was am Montag auch prompt geschah. In der Begründung wies die Regierung dabei aber vor allem auf die dramatische Lage in Indien und insbesondere in der Hauptstadt Delhi hin, wo täglich 25.000 Neuinfektionen gemeldet werden.

"Indische" Variante bereits in Europa

Zudem wurde Indien von Großbritannien auf die "rote Liste" jener Länder gesetzt, aus denen Reisende nach Ankunft für zehn Tage verpflichtend in eine Hotelquarantäne müssen. Denn klar ist, dass jede Einreise aus Indien das Risiko erhöht, die Variante B.1.617 weiter zu verbreiten.

Schon jetzt wurde sie bereits in 15 Ländern außerhalb von Indien nachgewiesen, laut outbreak.info auch bereits mehrfach in Europa. So sind unter anderem 113 Fälle in Großbritannien bekannt, acht in Deutschland und zwei in Italien. In Österreich wurde bisher noch keine Infektion mit B.1.617 gemeldet. (Manuel Escher, Klaus Taschwer, 20.4.2021)