Auch in Machtkämpfen unterlegene Politiker haben Skills, die in der Politik wichtig sind, sagt der Ökonom Kurt Kratena im Gastkommentar. Dabei gehe es aber eher um Sachpolitik und Reformen.

Mit dem Schielen auf Umfragen werden Wahlerfolge zum Selbstzweck.
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Seit dem Rücktritt von Minister Rudolf Anschober wird viel über die heutigen Anforderungen an Spitzenpolitiker geschrieben und diskutiert. Reinhold Mitterlehner hat dazu unlängst an dieser Stelle gefragt: "Wie krank ist die Politik?" – und sehr eindrucksvoll das enorme Arbeitspensum und die Belastung durch Machtkämpfe geschildert. Coaches, Politikexperten und -berater erklären uns seit einigen Wochen, dass der Spitzenpolitiker oder die Spitzenpolitikerin "Machtkompetenz" haben muss. Dieser Begriff umfasst zahlreiche Skills, ist aber vor allem auch eine euphemistische Beschreibung dafür, dass man brutalste, charakterlose Intrigen und Mobbing durch "Parteifreunde" und Journalisten abwehren und überleben muss – und nicht zu nahe an sich heranlassen darf, so ein weiterer Rat der Berater. Dann bleibt man eventuell gesund.

Dass Machtkämpfe und Intrigen quasi zum Tagesgeschäft der Politik gehören, ist nicht neu (auch Cäsar musste "zurücktreten"). Oft beruhen diese Intrigen auf einem Zweikampf unterschiedlicher Persönlichkeiten, und in der Periode seit 1945 finden sich viele Beispiele dafür. Aus jeweils tagesaktueller Sicht ist der den Machtkampf überlebende Sieger der bedeutende Politiker, der weiterhin die Politik bestimmen kann. Und damit bewiesen hat, dass er das Geschäft der Politik beherrscht.

Skills der Unterlegenen

In historischer Betrachtung stellt sich das oft völlig anders dar. Ludwig Erhard, der für Deutschland die soziale Marktwirtschaft erfunden hat, ist aus heutiger Sicht nicht so viel unbedeutender als der permanent gegen ihn intrigierende Konrad Adenauer. Alfons Gorbach, das erste Opfer des in Österreich so beliebten Parteiobmann-Mobbings, ist aus historischer Sicht für die Zweite Republik bedeutender gewesen als sein "Killer" Josef Krainer. Die Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen.

In allen diesen Fällen ist es aber so, dass der im Machtkampf unterlegene Politiker offensichtlich auch Skills aufweist, die für die Politik wichtig sind. Dabei geht es aber eher um Sachpolitik und Reformen. Wäre Erhard als Politiker besser und bedeutender gewesen, wenn er mehr Machiavelli gelesen hätte statt ökonomischer Fachliteratur? Auch dem so übel mitgespielten Mitterlehner ist im Duo mit Rudolf Hundstorfer eine gute Bewältigung der Finanzkrise 2008 gelungen, was ein Verdienst in historischer Perspektive bleiben wird. Und in zehn Jahren wird man von der äußerst erfolgreichen Bewältigung der Corona-Pandemie in Österreich durch Anschober lesen.

Ziel: Wahlerfolg

Warum vermitteln uns die Coaches und Politikberater ein so anderes Bild von politischem Erfolg? Warum gilt nur dieser eine Aspekt, die "Machtkompetenz", als Beleg dafür, dass jemand das politische Handwerk beherrscht? Ein wesentlicher Ansatzpunkt für eine Erklärung ist das aus der US-Fachliteratur stammende Modell der Politökonomie, das heute zum beherrschenden Paradigma der Politik in einer Demokratie geworden ist. Die Politik ist demnach ein Markt, auf dem sich Anbieter (Politiker) und Nachfrager (Wähler) gegenüberstehen und die Anbieter Stimmenmaximierung betreiben. Die Zielfunktion beinhaltet somit nur diesen Aspekt und Wahlerfolg, und gute Umfrageergebnisse werden zum Erfolgsmaßstab.

Dieses Modell beschreibt zweifellos einen Teil der Politik. Das politökonomische Modell konnte jedoch deswegen verabsolutiert werden, weil alle Beteiligten (Experten, Journalisten, Politiker) begonnen haben, daran zu glauben. Warum gibt es fast permanent Meinungsumfragen ("was wäre, wenn am Sonntag gewählt würde"), obwohl gar keine Wahlen anstehen und die Legislaturperiode sogar auf fünf Jahre verlängert wurde. Warum sollten mich als Bundeskanzler im April 2021, mitten in der Bekämpfung der Pandemie, meine Beliebtheitswerte interessieren? Darüber wird 2024 abgestimmt, nicht jetzt.

Nichts zu verlieren

Offensichtlich hat noch niemand ein Problem damit gesehen, dass bei Verabsolutierung des marktwirtschaftlichen Modells der Politik Wahlerfolge zum Selbstzweck werden. Wer sich behauptet – in Umfragen und Machtkämpfen – bleibt und ist dadurch per definitionem erfolgreich. Wie man sieht, ist es aber nicht so trivial, in der Wählergunst immer gut abzuschneiden. Die Wirklichkeit ist, wie so oft, komplexer als das ökonomische Modell. Viele Spitzenpolitiker bleiben nur eine Legislaturperiode lange in der Politik, bei den Bundeskanzlern sind es seit den 1960er-Jahren nur vier von 13, die länger als vier Jahre regiert haben. Der Normalfall ist somit die Abwahl. Viel Aufwand zur Beobachtung der Volksmeinung und zur Erlernung von "Machtkompetenz" zahlt sich kaum aus. Umgekehrt könnte ein wirklich an der Sachpolitik interessierter Spitzenpolitiker sich getrost für die Umsetzung der für ihn richtigen Politik engagieren, ohne Rücksicht auf die Popularität derselben. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass man ohnehin nur kurz in diesen Spitzenpositionen bleibt und damit nichts zu verlieren hat. (Kurt Kratena, 21.4.2021)