Die deutschen Grünen gehen mit Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin und einem hohen Ziel in die Bundestagswahl: stärkste Partei im Bund zu werden.
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"Frankfurter Allgemeine Zeitung": Trittsicherer als Habeck

"Es wäre eine Ironie der Geschichte gewesen, wenn ausgerechnet die Grünen bei nahezu gleicher Qualifikation sich für den Mann entschieden hätten. Annalena Baerbock wird sich aber nicht nur deshalb im Wettbewerb um die Kanzlerkandidatur gegen Robert Habeck durchgesetzt haben, weil sie als Frau einer Frau (und durchaus "grünen" Kanzlerin) nachfolgen will. Baerbock ist trittsicherer als Habeck, hat Erfahrung in Ostdeutschland gesammelt und ist ein Medienliebling, der sogar Habeck noch in den Schatten stellt. Nur eines fehlt ihr, was Habeck hat: Regierungserfahrung. (...)

Die Kanzlerkandidatur an sich, aber auch Baerbock als Kandidatin sind eine Versicherung, nicht in die Falle zu laufen, die ihnen in der Vergangenheit noch jeden Höhenflug verhagelt hat: auf eine rot-rot-grüne Perspektive festgelegt werden zu können."

"Augsburger Allgemeine": Handwerk Regieren

"Viele Deutsche allerdings werden sich sehr wohl fragen, ob sie eine der größten Volkswirtschaften der Welt einer Frau anvertrauen wollen, die noch nicht einmal ein Landratsamt geführt hat, geschweige denn ein Ministerium. Gutes Regieren, das wird gerne unterschätzt, ist auch Handwerk – und das will erlernt und beherrscht werden. Einfach mal rasch die Finanzierung der Nato infrage zu stellen oder den Kohleausstieg mal rasch um acht Jahre vorziehen zu wollen, wie die Oppositionspolitikerin Baerbock es tut – das kann eine Kanzlerin sich nicht erlauben."

"Stuttgarter Zeitung": Umbruch wie 1969?

"Wenn es denn so käme, dass die Kandidatin auch Kanzlerin wird, wäre das die größtmögliche Sensation dieses Superwahljahrs. Es käme einem Umbruch gleich wie letztmals 1969, als Willy Brandt Bundeskanzler wurde – erstmals ein Sozialdemokrat."

"Neue Zürcher Zeitung": Elastisches Gesellschaftsbild

"Mag doch der womöglich bald gewichene Kanzlerwahlverein Union seine Lust am absoluten Desaster zelebrieren, die Grünen stellen unterdessen unmissverständlich den Anspruch auf Regierungsmacht. Diese neue Disziplin und Professionalität ist beeindruckend. Sie sollte jedoch nicht den Blick auf das verstellen, was Baerbock bei ihrer Antrittsrede als Kanzlerkandidatin als eine 'Politik für die breite Masse der Gesellschaft' bezeichnete. (...)

Ein genauerer Blick auf das Wahlprogramm der Grünen offenbart viel, aber gewiss nicht jene 'Veränderung', die Deutschland tatsächlich nötig hätte. In dem Papier zeigt sich ein zutiefst etatistisches und dirigistisches Gesellschaftsbild, in dem der regulierende Staat viel und die individuelle Freiheit wenig zählt. Den Grünen schwebt ein Deutschland als eine Art Besserungsanstalt vor."

"La Repubblica": Zerzauste Vergangenheit

"Die Grünen scheinen ihre zerzauste Vergangenheit, ihre historische Aufteilung in Realos und Fundis, in Pragmatiker und Idealisten begraben zu haben, und jetzt scheinen sogar die Streifzüge nackter Aktivisten sowie die Schreie und kreativen Aktionen auf den Parteitagen der ersten drei Jahrzehnte der Geschichte anzugehören."

"de Volkskrant": Keine "neue Merkel"

"Die in Deutschland bereits gängige Bezeichnung von Baerbock als "neue Merkel" ist unpassend. Baerbock, Jahrgang 1980, betreibt Politik namens einer Generation – oder zumindest dem gebildeten, progressiven Teil davon. Es ist eine Generation, die kaum in Führungspositionen des hierarchischen deutschen politischen Systems vorgedrungen ist. Es ist auch eine Generation, die im vereinten Deutschland aufgewachsen ist, die von sich aus international denkt (...), die danach strebt, Karriere und Kinder zu vereinbaren, und die es gewohnt ist, ein öffentliches Bild von sich in den sozialen Medien zu kultivieren." (APA, 20.4.2021)