Den "Angriff von innen" ist man in Bosnien-Herzegowina seit Jahrzehnten gewohnt: Völkische Nationalisten versuchen seit der Gründung des Staates 1992 diesen zu zerstören. Zunächst geschah dies durch kriegerische Aggression, heute passiert es durch Gesetzesvorschläge und politische Propaganda. Neuerdings bekommen die Nationalisten auch Schützenhilfe aus anderen Staaten: aus Kroatien und Slowenien. Das gemeinsame Bosnien-Herzegowina leidet wieder einmal unter einer Attacke.

Zum Wahlgesetz in Bosnien-Herzegowina scheiden sich die Geister.
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Der Chef der bosnisch-herzegowinischen HDZ, Dragan Čović, versucht seit langem internationalen Politikern und Diplomaten weiszumachen, dass Kroaten in Bosnien-Herzegowina diskriminiert seien, und spricht von "legitimer Repräsentation".

Eine Erfindung von Čović

Der Grazer Verfassungsrechtler und Experte für die bosnische Verfassung, Joseph Marko, sagt, dass Čović mit dieser Strategie erreichen will, dass künftig eine Art Punktesystem ausgearbeitet wird, wonach die Kandidaten der zehn Kantone im bosnischen Landesteil Föderation neu gewichtet werden sollen – damit jene zum Zuge kommen, die in den Kantonen leben, wo die HDZ stark ist. Mit Diskriminierung hat das allerdings nichts zu tun. Es geht um den Machterhalt der HDZ.

"Die legitime Repräsentation ist eine Erfindung von Čović ohne rechtliche Grundlage", sagt Marko. Denn diskriminiert werden in Bosnien-Herzegowina ganz andere: In mehreren Urteilen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgestellt, dass jene Bosnier, die sich nicht zu den sogenannten drei Völkern (Bosniaken, Serben, Kroaten) in Bosnien-Herzegowina zählen, benachteiligt werden.

Juden und Roma schwer diskriminiert

So können etwa Juden oder Roma nicht Mitglied des Staatspräsidiums werden. Und Bosnier, die überhaupt nicht zu einer Volksgruppe zählen, weil sie sich als individuelle Bürger sehen, sind ebenfalls von Ämtern ausgeschlossen. Allerdings haben es Čović und Co durch die Unterstützung des EU-Mitglieds Kroatien trotzdem geschafft, mit ihrer Propaganda eine sogenannte "kroatische Frage" auf die Agenda zu bringen. Diese nationalistischen Kroaten üben nicht nur im EU-Parlament, sondern auch in diplomatischen Kreisen mittlerweile enormen Einfluss aus. Dabei hat die bosnisch-herzegowinische HDZ in den vergangenen Jahren Wähler verloren. Deshalb hat sie Angst, dass sie ihre Vetomacht nicht mehr ausspielen kann.

Der Chef der bosnisch-herzegowinischen HDZ, Dragan Čović.
Foto: imago images/ITAR-TASS

Insgesamt gibt es fünf Urteile des EGMR (Sejdić-Finci, Zornić, Pilav, Šlaku und Pudarić), die ein Ende der Diskriminierung fordern. Die Verfassung müsste geändert werden, um die Gleichheit aller Bürger zu gewährleisten. Falls aber Čović mit seiner Idee einer "legitimen Repräsentation" durchkommt, würde dies zum Gegenteil, nämlich zu einer weiteren Ethnisierung und Fragmentierung des Staates, führen.

Verfassungswidriger Vorschlag

"So etwas wäre verfassungswidrig, weil damit ein System geschaffen würde, welches im Gegensatz zu den Wahlsystemen auf anderen Ebenen steht. Es wäre also gleichheitswidrig", erklärt Marko dem STANDARD. Die Umsetzung der Idee einer "legitimen Repräsentation", wie sie Čović verfolgt, würde den Urteilen des EGMR diametral widersprechen.

Das Ansinnen von Čović steht auch im Gegensatz zu den Schlussfolgerungen des EU-Rats aus dem Jahr 2017. Dort heißt es im Artikel 4 klipp und klar: "Der Rat erkennt zwar an, dass in der Verfassung von Bosnien und Herzegowina Bosniaken, Kroaten und Serben (zusammen mit anderen) als konstituierende Völker aufgeführt sind, bekräftigt jedoch, dass die Grundsätze der Gleichheit aller Bürger und der Nichtdiskriminierung uneingeschränkt gewährleistet werden. Der Rat betont, dass keine gesetzgeberischen oder politischen Schritte unternommen werden sollten, die die Umsetzung des Sejdić-Finci-Urteils und der damit verbundenen Entscheidungen schwieriger machen würden."

Alte EU-Forderung

Die EU fordert seit Jahren, dass das Sejdić-Finci-Urteil aus 2009 endlich umgesetzt wird, damit auch Juden wie Finci und Roma wie Sejdić ins Staatspräsidium gewählt werden können. Die HDZ will jedoch zuerst das Wahlrecht zu ihren Gunsten verändern. Čović bezieht sich dabei immer wieder auf den sogenannten Fall Ljubić: eine Entscheidung des bosnischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2016, die allerdings längst umgesetzt wurde.

Der Verfassungsrechtler Marko hat wiederholt darauf hingewiesen, dass im Fall Ljubić alles erledigt ist, weil das Verfassungsgericht bereits einen entsprechenden Passus gestrichen hat. Eine Wahlrechtsreform, wie sie die HDZ will und die zu einer Änderung der Entsendeformel für Abgeordnete führen würde, entbehre einer rechtlichen Grundlage. "Denn der entsprechende Artikel 10.16 im Wahlgesetz legt bereits präzise fest, wie die Wahlkommission die Vertreter entsenden muss. Es gibt keinerlei Interpretationsspielraum", so Marko zum STANDARD.

Politische Tricksereien

Allerdings haben auch internationale Diplomaten und Politiker den Trick der HDZ, Ljubić zu einem Anlassfall für ihre politischen Anliegen zu machen, nicht durchschaut. Selbst US-Außenminister Antony Blinken forderte kürzlich in einem Brief an das bosnische Staatspräsidium, dass neben den Entscheidungen des EGMR auch "jene des Verfassungsgerichtshofs von Bosnien-Herzegowina" umgesetzt werden sollen. Auch in einem internen EU-Papier wird auf den Fall Ljubić hingewiesen, obwohl dieser längst erledigt ist.

Čović gibt sich siegessicher, weil er denkt, dass die EU und die USA ihn in dem Fall unterstützen werden: "Das Wichtigste für mich ist, dass wir Vertreter internationaler Institutionen einbezogen haben, die diese Prozesse von Anfang an verfolgt haben. Alle Anreize der EU und der amerikanischen Seite machen sehr deutlich, dass diese Arbeit mit unseren Kräften abgeschlossen werden muss", sagte er kürzlich. Tatsächlich fanden laut dem bosnischen Portal "Večernji" bereits mehrere Treffen nicht näher genannter lokaler Politiker unter der Vermittlung internationaler Vertreter statt, obwohl ein transparenter und inklusiver Prozess etwa mit der Zivilgesellschaft versprochen worden war. Deshalb besteht in Bosnien-Herzegowina die Sorge, dass gerade ein Deal ausgemacht wird.

EU will Wahlmanipulationen beenden

Dabei sind ganz andere Forderungen der EU-Kommission – wie die Umsetzung der Empfehlungen des Europarats, der Venedig-Kommission und der Staatengruppe gegen Korruption (Greco), um Wahlmanipulationen zu verhindern – tatsächlich wichtig für Bosnien-Herzegowina.

Željko Komšić, Mitglied im bosnischen Staatspräsidium, hat die EU-Staaten, die USA, die Türkei, Großbritannien und Japan darauf hingewiesen, dass es keiner Änderung des Wahlgesetzes, wie es die HDZ fordert, sondern dringend Verfassungsänderungen brauche, um endlich die Diskriminierung von Juden und Roma zu beenden.

HDZ gibt nicht auf

Angesichts dessen, dass der HDZ die Argumente für ihre Forderungen fehlen, versucht sie nun neuerlich das bosnische Verfassungsgericht mit dem Fall Ljubić zu beschäftigen. Eine Sitzung soll im Juni oder Juli im Rahmen des Großen Rats stattfinden. Auf Anfrage des Mediums "Patria" bestätigte das Verfassungsgericht, dass die Frage der Vollstreckung des Urteils zu Ljubić auf dieser Sitzung geprüft werden soll.

Die HDZ will damit offenbar die Causa so lange wie möglich am Leben halten, um ihr einziges Werkzeug zu retten. Unterstützung für dieses Ziel gibt es weiterhin aus dem Ausland, nämlich aus Kroatien. Zagreb hat kürzlich ein Non-Paper verfasst, das auch von Slowenien und Ungarn unterstützt wird, darin geht es wieder um die sogenannte Diskriminierung.

Warnung vor Non-Paper aus Kroatien

Nichtvölkisch orientierte Politiker wie Komšić warnen: "Einige EU-Länder könnten durch das Non-Paper aus Kroatien in die Irre geführt werden, das dazu da ist, Kroatiens Politik fortzusetzen und weiterhin Einfluss auf interne Fragen in Bosnien und Herzegowina zu nehmen. Es ist sehr wichtig, dass alle EU-Mitgliedsstaaten sehen und überlegen, was Kroatien in Bosnien und Herzegowina wirklich will, nicht aus kroatischer Sicht, sondern aus Sicht der europäischen Normen und Werte. Wenn die EU-Mitgliedsstaaten etwas akzeptieren würden, das jenseits der europäischen Werte liegt, die alle teilen, wie die Gleichheit aller Bürger, die Menschenrechte, die Grundfreiheiten und die Demokratie, wäre dies für die Europäische Union selbst sehr gefährlich und unangemessen."

Mittlerweile haben sich die Spannungen rund um das Wahlgesetz noch verschärft, weil vergangene Woche noch ein weiteres Non-Paper des rechtspopulistischen slowenischen Premiers Janez Janša bekannt wurde, der sogar neue Grenzen nach ethnischen Kriterien auf dem Balkan schaffen will, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Kriegen führen würde.

Janša unterstützt Extremisten

Das Non-Paper von Janša sorgte in Bosnien-Herzegowina für Angst und Verunsicherung bei jenen, die Angst vor Konflikten und Sorge um den Staat haben. Völkische Nationalisten wie Milorad Dodik freuen sich hingegen: Sie versuchen seit Jahren Bosnien-Herzegowina zu zerstören und haben nun mit neuerlichen Kampagnen begonnen. In dem Zusammenhang fehlt es an eindeutigen und klaren Worten der EU zu diesem Thema.

Dass Kroatien parteilich agiert und lobbyiert, macht die Sache noch schwieriger. Im Europäischen Parlament konnte sich etwa der Vorstand der Delegation für die Beziehungen zu Bosnien und Herzegowina aufgrund einer Blockade der Europäischen Volkspartei (EVP) nicht konstituieren, weil zwei Kroaten als stellvertretende Vorsitzende vorgeschlagen wurden. Zwei Personen aus ein und demselben Land sind nicht zulässig. Die EVP beharrt allerdings auf der Nominierung der radikalnationalistischen kroatischen HDZ-Abgeordneten Željana Zovko, die sich eigentlich nur für Bosnien-Herzegowina interessiert, weil sie aus Mostar stammt.

Patt im EU-Parlament wegen Kroaten

Zovko setzt sich wie Čović seit Jahren offen für eine Ethnisierung des Wahlrechts in Bosnien-Herzegowina ein. Thomas Waitz, EU-Abgeordneter der Grünen und Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu Bosnien und Herzegowina, meint dazu: "Die Nominierung der ethnonationalistisch eingestellten Abgeordneten Zovko für den Posten der stellvertretenden Vorsitzenden der Delegation ist schon skandalös genug." Es sei zudem besorgniserregend, so Waitz, wie Abgeordnete für eine angeblich friedliche Auflösung Bosnien-Herzegowinas werben, obwohl diese zu kriegerischen Auseinandersetzungen und einer erneuten Instabilität der Region führen könnte. "Es wird offen für einen Regelbruch lobbyiert und gleichzeitig die Arbeit der Delegation seit Jahren blockiert", kritisiert der Österreicher. (Adelheid Wölfl, 21.4.2021)