Immer mehr europäische Staaten lassen die Hilfe zum Selbstmord zu. "Aktive Sterbehilfe" oder "ärztliche Tötung auf Verlangen" ist aber nach wie vor nur in wenigen Ländern legal.

Foto: Imago/Becker&Bredel

Ende des vergangenen Jahres wurde in Österreich das Verbot der Hilfeleistung zum Suizid teilweise für verfassungswidrig erklärt. In Deutschland wurde vor über einem Jahr der Strafrechtsparagraf 217, "Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe", aufgehoben. Seitdem wird hier wie dort über Nachfolgeregelungen diskutiert.

Der deutsche Arzt und Medizinethiker Jochen Vollmann beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Thema Sterbehilfe. Ihm ist vor allem wichtig, dass die Diskussion sachlich geführt wird. Aktive Sterbehilfe, also die Tötung durch den Arzt, hält aber auch er für moralisch und rechtlich fragwürdig, weil das Missbrauchspotenzial groß sei. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Ende schließe ein, für den letzten Schritt auch selbst die Verantwortung zu übernehmen.

STANDARD: Haben Sie als Professor für Medizinethik das Gefühl, dass sich derzeit gerade in der Frage der Sterbehilfe etwas bewegt in Europa?

Vollmann: Meinem Eindruck nach ist die Diskussion immer sehr stark von der jeweiligen nationalen Rechtsprechung, je nach Rechtssystem vom Verfassungsgericht oder durch einzelne Fallentscheidungen, getrieben. Das sind jedenfalls die Auslöser, die auch zu sehr emotional geführten öffentlichen Diskussionen führen.

STANDARD: Gibt es ein Recht auf den eigenen, selbstbestimmten Tod?

Vollmann: Ja, ein solches Recht hat jeder Bürger in unserer Rechtsordnung. Entscheidend ist dabei, dass es sich um eine selbstbestimmte Entscheidung handelt. Ein weiterer Aspekt ist die ethische Bewertung der Selbsttötung, die in unserer Gesellschaft traditionell als ein Unglücksfall negativ bewertet wurde. Der Suizid im christlich geprägten Abendland bedeutete zunächst einmal Sünde. Das war eine wirkmächtige moralische Ausgrenzung. In einem nächsten Schritt wurde das Thema dann psychiatrisch bewertet. Der Suizid wurde nicht mehr als Sünde, sondern als Folge einer psychischen Erkrankung gesehen. Der Selbstmörder wurde vom Sünder zum Opfer und damit moralisch entlastet. Gleichzeitig wurde ihm als psychisch Krankem das Selbstbestimmungsrecht abgesprochen. Diese moralische Wertung wird aktuell infrage gestellt.

STANDARD: Wie viele Menschen sind es eigentlich, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollen? Gibt es dazu Zahlen?

Vollmann: Es sind sehr wenige. Die besten empirische Zahlen für assistierte Selbsttötung haben wir aus dem US-Bundesstaat Oregon, wo das seit den 1990er-Jahren sehr gut dokumentiert ist. Auch in der Schweiz gibt es empirische Daten. Man kann grob sagen, dass es dort auf unter einen Prozent der Sterbefälle zutrifft. Das ist die Größenordnung.

STANDARD: Was ist für die Gesellschaft ein gültiges Motiv? Muss es immer eine schwere körperliche Erkrankung sein?

Vollmann: Das ist am ehesten akzeptiert. Bei psychischen Erkrankungen wird es schon schwieriger. Und wenn ein 85-Jähriger beispielsweise sagt, er hat sein Leben gelebt und will es deshalb beenden, wird es noch kontroverser. Es hängt immer davon ab, wie Sie die moralischen Gründe gewichten. Man könnte auch einfach davon ausgehen, dass ein selbstbestimmungsfähiger Bürger auch das Recht hat, sein Ende unabhängig von einem "ausreichend schwerwiegenden Motiv" zu gestalten. Das tut im Übrigen auch das deutsche Bundesverfassungsgericht.

STANDARD: In der Praxis stellt sich natürlich die Frage, wie man den "selbstbestimmten Willen" ausreichend prüft.

Vollmann: Ja. Aktuell ist man in Deutschland in der Diskussion angelangt, wie man das konkret umsetzt. Es können und sollen Kriterien eingebaut werden, die sicherstellen, dass es wirklich ein selbstbestimmter Wille ist und kein Missbrauch oder eine unüberlegte Entscheidung. Als Professor für Medizinethik und als Facharzt für Psychiatrie kann ich aber sagen, dass die Instrumente zur Willensfeststellung in der Medizin schon seit Jahrzehnten im Bereich der Einwilligung zu diversen Behandlungen existieren. Diese könnte man auch bei Sterbehilfefällen anwenden.

STANDARD: Was halten Sie von Sterbehilfeorganisationen, die bei der Umsetzung von Suizidwünschen helfen?

Vollmann: Das ist ja eine Tradition aus der Schweiz. Eine Bürgerbewegung, die sich entwickelt hat, weil das etablierte Gesundheitssystem dort die Hilfe zur Selbsttötung abgelehnt hat. Aus der Sicht der Betroffenen finde ich es aber besser, wenn den Wünschen des Patienten innerhalb des etablierten und mit öffentlichen Mittel finanzierten Gesundheitssystems seriös und fachlich qualifiziert entsprochen werden kann.

STANDARD: Gäbe es denn ausreichend viele Ärztinnen und Ärzte, die "Assistenz zur Selbsttötung" leisten würden?

Vollmann: Ja. Auch unter den Palliativmedizinern, die viele der betroffenen Patienten versorgen. Die Assistenz durch sie ist hinsichtlich Qualitätssicherung und Vermeidung von Missbrauch der beste Weg für alle Betroffenen, insbesondere für die Patienten. In vielen Fällen besteht der Selbsttötungswunsch nach einer Beratung und bei guter palliativmedizinischer Versorgung auch gar nicht mehr.

STANDARD: Würden Sie das selbst auch machen?

Vollmann: Ja. Ich muss aber auch dazusagen, ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit dem Thema und habe in den USA erlebt, wie das in Einzelfällen ein sehr guter Tod sein kann. Werden die Angehörigen mit einbezogen, können auch sie das sehr positiv empfinden und mittragen. Wenn man sich mit dem Thema nie beschäftigt hat, kann Sterbehilfe, weil traditionell moralisch negativ besetzt, aber auch für viele Ärzte eine Horrorvision sein. Das ist nachvollziehbar und verständlich.

STANDARD: Wir sprechen hier von der ärztlich assistierten Selbsttötung. Was halten Sie von der sogenannten "ärztlichen Tötung auf Verlangen", bei der – wie in den Niederlanden – ein tödliches Medikament durch den Arzt oder die Ärztin injiziert wird?

Vollmann: Das lehne ich ab. Moralisch wie rechtlich macht das einen grundlegenden Unterschied, weil die Schwelle der Fremdtötung überschritten wird. In dem Moment, wo ich es ernst meine mit der Achtung des Selbstbestimmungsrechts zur Selbsttötung, liegt es auch nahe, dass der Patient den allerletzten Schritt selbst tut. Selbstbestimmungsrecht ist nicht bequemes Konsumenten-Shopping. In den Niederlanden, wo es beide Möglichkeiten gibt, nimmt kaum ein Patient die Beihilfe zur Selbsttötung in Anspruch, sondern will vom Arzt getötet werden. Das halte ich für moralisch sehr widersprüchlich und äußerst fragwürdig. Hier sehe ich auch ein großes Missbrauchspotenzial, das leider in den Niederlanden auch dokumentiert ist.

STANDARD: Was möchten Sie der diskutierenden Öffentlichkeit mitgeben?

Vollmann: Die diskutierende Öffentlichkeit sollte sich auf Fakten einlassen und sich nicht mit moralischen Reflexen zufriedengeben. (Manuela Honsig-Erlenburg, 26.4.2021)

Jochen Vollmann ist Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Medizinethiker. Er leitet das Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum.