Millionen an EU-Mitteln werden in Tirol entgegen dem Inklusionsgedanken verwendet, kritisieren Betroffenenverbände.

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Wien/Brüssel – Bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres haben Selbstbestimmt Leben Österreich (SLIÖ) und das Europäische Netzwerk für Selbstbestimmtes Leben (ENIL) eine offizielle Beschwerde gegen Österreich bei der EU- Kommission eingereicht. Diesmal stehen Projekte in Tirol im Fokus der Kritik. Es geht gemäß den Beschwerdeführerinnen um die missbräuchliche Verwendung von geschätzten 3,2 Millionen Euro aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (E-LER), die in Tirol für die Renovierung und den Neubau aussondernder Behinderteneinrichtungen verwendet wurden.

Konkret sind es fünf Wohneinrichtungen und drei Werkstätten für erwachsene Menschen mit Behinderungen sowie eine große Einrichtung für Kinder mit Behinderungen. SLIÖ und ENIL kritisieren, dass durch die Förderung dieser Projekte die Aussonderung von Menschen mit Behinderungen fortgesetzt werde, statt ihr entgegenzuwirken. Die Vorsitzende von SLIÖ, Bernadette Feuerstein, hat kein Verständnis für dieses Vorgehen: "Die Gelder aus den EU-Strukturfonds sollten für den Ausbau von persönlicher Assistenz für Kinder und erwachsene Frauen und Männer mit Behinderungen sowie für die Inklusion am Arbeitsmarkt verwendet werden."

Millionen für Aussonderung statt Teilhabe

Denn in der von Österreich ebenfalls ratifizierten UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist das Recht auf Teilhabe und Selbstbestimmung unmissverständlich verankert. Allerdings sieht die Realität anders aus. Österreich hält bis heute am Sonderschulsystem und damit der Aussonderung von Kindern wie Erwachsenen fest. Für Feuerstein ist es umso unverständlicher, dass Tirols Landesregierung weiterhin Millionen investiert, um diese für Betroffene fast unüberwindbaren Verhältnisse zu zementieren: "Dass Tirol insgesamt drei Millionen – die Hälfte davon E-LER-Mittel – in die Renovierung einer Heimsonderschule investiert, macht mich sprachlos."

Die genannte Sonderschule, der ein Gutteil der rund 3,2 Millionen zukommt, ist das Elisabethinum in Axams, das vom Seraphischen Liebeswerk betrieben wird und wo gut 290 Kinder betreut werden. Seitens des Landes erklärte man schon 2019, dass die Investitionen aus dem Programm für ländliche Entwicklung genutzt würden, um Verbesserungen der Lernumgebung sowie Barrierefreiheit umzusetzen.

Österreich bei Inklusion säumig

Geht es nach den beschwerdeführenden Organisationen, hätte man diese Mittel aber besser verwenden können, sagt Feuerstein: "Wieso wurde dieses Geld nicht für inklusive Maßnahmen investiert, damit die Kinder die Schule in ihrem Heimatort besuchen und bei ihren Familien leben können?" Erst vor einem Jahr habe der UN-Ausschuss für die Rechte von Kindern Österreich zum wiederholten Mal für fehlende Strategien zur Inklusion von Kindern mit Behinderungen gerügt, so die Expertin.

Wie bereits bei der ersten Beschwerde gegen die oberösterreichische Landesregierung im Juli 2020 – DER STANDARD berichtete –, bei der es um die missbräuchliche Verwendung von 7,5 Millionen Euro aus EU-Mitteln ging, fordern SLIÖ und ENIL die Europäische Kommission dazu auf, gegen die Tiroler Landesregierung vorzugehen, etwa durch Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens. Die Behindertenorganisationen sind der Ansicht, dass es dafür eine solide Rechtsgrundlage gebe: "Das Recht behinderter Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben, auf Arbeit und Beschäftigung sowie der Schutz vor Diskriminierung gehören zu den gemeinsamen Werten der EU und sind gesetzlich verankert."

Internationale Kritik

"Die neuen Behinderten- und Kinderrechtsstrategien der EU sind dem Abbau von Betreuung in Einrichtungen verpflichtet. Es wird Zeit, dass diese Verpflichtungserklärungen auch in Taten umgesetzt werden," betont Nadia Hadad, stellvertretende Vorsitzende von ENIL, und ergänzt: "Die Covid-19-Pandemie hat uns gezeigt, wie zerstörerisch das Versäumnis, zu handeln, sein kann für Kinder und Erwachsene, die in Einrichtungen leben."

Mit der Beschwerde wollen die Behindertenorganisationen die EU-Kommission dazu bringen, gegen Österreich vorzugehen – etwa in Form eines Vertragsverletzungsverfahrens. (Steffen Arora, 21.4.2021)