Was macht eine glückliche Beziehung aus? Zu dieser Frage hat wohl kaum jemand so viel zu sagen wie das Therapeutenpaar Roland und Sabine Bösel. Sie sind seit 40 Jahren zusammen, seit mehr als 30 Jahren arbeiten sie mit Paaren. Vergangenes Jahr haben sie ein Buch veröffentlicht: "Liebe, wie geht's? 52 Impulse für gelingende Beziehungen". Das erste Kapitel widmet sich dem Thema Familie. Denn die Vergangenheit, die Familie, ist für 90 Prozent der Beziehungsprobleme verantwortlich, schreiben die Therapeuten. Was ein Mensch in der Kindheit erlebt hat, prägt sein Leben – auch sein Liebesleben. Das wissen Roland und Sabine Bösel nicht nur aus einer Vielzahl an abgehaltenen Therapiestunden, sondern auch aus eigener Erfahrung. Sie kommen nämlich aus Familien, die Wert auf ganz unterschiedliche Dinge legten, was gerade anfangs zu Streit führte.

Jeder bringt seine eigene Geschichte mit in die Beziehung. "Wenn diese Herkunft unbewusst bleibt, wiederholen sich gewisse zerstörerische Geschichten", sagen Roland und Sabine Bösel.
Foto: Stefan Fürtbauer

Im Interview erzählen die Paartherapeuten über ihre Ehe und ihre ersten Konflikte. Sie sprechen darüber, wieso wir uns oft unbewusst Partner aussuchen, mit denen wir uns reiben – und wie es trotzdem gelingen kann, als Paar auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.

STANDARD: Zunächst eine ganz grundlegende Frage: Wann wird das Bindungsverhalten eines Menschen festgelegt? Einige Ihrer Fachkolleginnen und -Kollegen gehen davon aus, dass das schon vor der Geburt und dann in den ersten Lebensjahren geschieht.

Roland Bösel: Dieses Fundament wird in den ersten drei Lebensjahren gelegt. Es geht einerseits darum, wie die Eltern miteinander umgegangen sind. Welche Beziehung sie einem vorgelebt haben. Andererseits aber auch darum, wie mit uns als Kind umgegangen wurde. Das entscheidet darüber, wie wir als Mensch werden, mit welchen Problemen wir uns im späteren Leben herumschlagen. Für die Partnerwahl ist die Familiengeschichte ebenfalls wichtig.

Sabine Bösel: Bei mir war es zum Beispiel so, dass meine Schwester tödlich verunglückt ist, eineinhalb Jahre bevor ich geboren wurde. So sehr sich meine Eltern über mich gefreut haben, der Schock saß ihnen tief in den Knochen. Sie waren für mich und meine Probleme manchmal einfach nicht erreichbar. Ich erinnere mich noch genau daran, dass zu Hause immer eine ganz eigenartige Stimmung herrschte. Erst viel später habe ich begriffen, was das mit mir gemacht hat – ich hatte das Trauma ja nicht selbst erlebt, sondern meine Eltern haben es erlebt. Wenn sie Angst um mich hatten, haben sie geklammert.

Roland Bösel: Und welchen Partner sucht sich meine Frau aus? Einen, der zu klammern beginnt, wenn er Angst hat.

Sabine Bösel: Eine gute Wahl!

STANDARD: Suchen wir uns immer Partner aus, die irgendwie mit unserer Vergangenheit korrespondieren?

Sabine Bösel: Suchen vielleicht nicht, aber wir finden sie – und sie sind für uns interessant. Andere potenzielle Partner finden wir weniger interessant. Wenn Roland nicht das Zeug hätte zu klammern, hätte ich ihn wahrscheinlich nie gewählt. Auf diese Dinge kommt man aber erst später drauf, in der ersten Verliebtheit wird das oft gar nicht evident.

STANDARD: Aber wieso tut man das? Man könnte sich ja viele Schwierigkeiten ersparen ...

Sabine Bösel: Wir streben unbewusst danach, alte Geschichten aufzulösen. Deshalb brauchen wir jemanden, der sie hervorholt. Aber das ist natürlich nur eine mögliche Erklärung.

STANDARD: 90 Prozent unserer Frustrationen haben mit unserer Geschichte zu tun und nur zehn Prozent mit der aktuellen Situation, schreiben Sie in Ihrem aktuellen Buch. Ist das den Paaren, die zu Ihnen kommen, bewusst?

Roland Bösel: Meistens nicht. Meistens steht das aktuelle Drama im Vordergrund: Jemand fühlt sich ungerecht behandelt, jemand hatte eine Affäre, jemand zieht sich aus der Beziehung zurück. Aber das sind alles Beziehungsprobleme, die ihren Ausgang meistens schon viel früher haben. Beziehungsprobleme haben meist mit der Vergangenheit zu tun.

Sabine Bösel: Das Erste, was wir deshalb mit den Paaren machen: Wir fragen nach ihrer Kindheit, nach ihren Eltern und den Großeltern und deren Geschichte. Wir fragen drei Generationen ab. Beim Abfragen erkennen wir dann meist schon einen roten Faden, der sich durchzieht. Da zeigt sich dann, dass es auch früher schon Krankheiten in der Familie gab, Scheidungen, Alkoholprobleme, Betrug oder Zweitfamilien. Schon allein beim Erzählen merken die Leute: Ui, da gibt es Parallelen.

Roland Bösel: Es gibt ja diesen schönen Spruch: Zukunft braucht Herkunft. Wenn ich nicht weiß, woher ich komme, weiß ich oft nicht, wo ich hingehe. Wenn diese Herkunft unbewusst bleibt, wiederholen sich gewisse zerstörerische Geschichten.

Sabine Bösel: Manchmal ist es aber auch weniger offensichtlich und man muss ein bisschen länger suchen, um der Sache näher zu kommen. Erst heute Früh hatte ich eine interessante Geschichte. Eine Patchworkfamilie, beide Partner haben ein Kind in die Beziehung mitgebracht. Er sagte, dass es ihm wehtut, dass seine Frau ihr leibliches Kind anders behandelt als seines. Sein Eindruck ist, dass sie weniger streng ist, und das nimmt er ihr übel. Wir kamen dann zu der Frage, was das mit seiner eigenen Geschichte zu tun hat. Er erzählte, dass er einen Halbbruder hat. Er war nicht das leibliche Kind von seinem Vater. Wir dachten: Oha, eine erste Parallele. Später zeigte sich aber, dass das nicht der Grund für seinen Unmut war. Der eigentlich Grund war, dass es da noch eine jüngere Schwester gab, die verhätschelt wurde. Das war es also. Der Mann empfindet die Emotion von damals und verteidigt seinen Sohn.

STANDARD: Auch bei Ihnen haben Ihre Familiengeschichten zu Differenzen geführt. Als Sie sich kennenlernten, haben Sie erst einmal bemerkt, dass sie eigentlich ganz unterschiedlich ticken.

Roland Bösel: Ich komme aus einer Unternehmerfamilie, die nur gearbeitet hat. Ausschließlich. Von vier Uhr in der Früh bis spät in der Nacht. Und die Sabine kommt aus einer bürgerlichen Familie, in der Bildung das Wichtigste war. Nach dem Motto: Alles, was du im Kopf hast, kann dir niemand mehr nehmen. Da sind zwei Welten aufeinandergeprallt. Die Sabine hat manchmal tagelang über eine Frage sinniert. Ich war der, der anpackt und umsetzt.

Sabine Bösel: Ich habe immer sehr viel geistige Nahrung bekommen. Rolands Eltern haben sich die Zeit dafür nicht genommen. Sie haben wirklich sehr viel gearbeitet. Er kannte meine Welt also gar nicht. Einmal wollte ich eine Bildungsreise nach Italien machen ...

Roland Bösel: ... Sie wollte sich die Ruinen anschauen. Und ich habe gesagt: Um Gottes willen, das Unternehmen wird einbrechen.

Sabine Bösel: Am Ende hat uns die Reise beide fasziniert. Während Roland eher der Umsetzungsstarke war, musste ich erst vom Denken ins Tun kommen. Da konnte ich von ihm lernen, und jetzt ist es, glaube ich, eine ganz gute Balance.

Roland Bösel: Ich habe so viel mitgenommen von der Bildungsreise mit meiner Frau! Ich weiß heute noch, wer den Dom von Florenz gebaut hat: Arnolfo di Cambio. Das habe ich mir gemerkt, weil sie mir eine Welt gezeigt hat, die ich bisher noch nicht kannte. Umgekehrt hat sie vor ein paar Jahren einen Riesenkongress organisiert.

Sabine Bösel: Ich habe gelernt, etwas auf die Beine zu stellen. Und hatte wirklich Spaß daran.

Roland Bösel: Deshalb ist es so wichtig zu wissen, wo man herkommt. Ich habe realisiert: In meiner Familie hatte Arbeit einen unglaublich hohen Stellenwert. Die Herausforderung ist, sich klar zu werden, ob man das wirklich möchte. Oder ob man es nur so macht, weil einem das in die Wiege gelegt wurde.

STANDARD: Sich der 90 Prozent bewusst zu werden ist also der erste Schritt.

Roland Bösel: Und der zweite ist, darüber zu reden. Ich habe immer gedacht, meine Frau muss eh wissen, was ich will. Das muss sie mir doch ansehen, das muss sie riechen! Ich brauche sehr viel Wertschätzung. Wie viele andere wusste ich nicht, dass ich meiner Partnerin kommunizieren muss, wie ich ticke. Denn der andere gibt einem automatisch das, was er selbst braucht. Die Sabine braucht sehr viel Anerkennung und hat deshalb auch mir Anerkennung gegeben. Zwischen Anerkennung und Wertschätzung besteht aber ein gravierender Unterschied. Anerkennung gibt man für eine Leistung, Wertschätzung für das, was jemand ist, also etwa ein sonniges Gemüt.

Sabine Bösel: Ich hatte zwei große Brüder, und meine Leistung als Kind war für meine Eltern nie besonders. Wenn ich etwas gelernt hatte, konnten das meine Brüder zu diesem Zeitpunkt schon längst. Also war es bei mir selbstverständlich. Deshalb sehne ich mich heute wohl so sehr danach, dass meine Leistungen gewürdigt werden.

Roland Bösel: Irgendwann hat sich die Sabine bei mir beschwert, und ich habe zu ihr gesagt: 'Ich gebe dir doch eh so viel Wertschätzung!' Sie hat geantwortet: 'Ich brauche deine Wertschätzung nicht, ich brauche Anerkennung. Sag mir lieber, was ich gut mache!' Ich habe das gegeben, was ich selber brauche. Und die Sabine hat mir Anerkennung gegeben, die ich nicht nötig hatte, weil ich in meiner Kindheit davon genug bekommen habe und häufig damit manipuliert wurde.

Sabine Bösel: Indem man darüber spricht, kann es gelingen, die Welt des anderen besser kennenzulernen und zu verstehen. Schlussendlich geht es darum, sich gemeinsam eine neue Welt zu schaffen. Und zwar auch, indem man neue Familientraditionen und Verhaltensweisen begründet.

STANDARD: Wann ist denn der richtige Zeitpunkt, um über die Vergangenheit zu sprechen? Bevor man heiratet? Ein Kind bekommt?

Sabine Bösel: Am besten schon davor. Ich würde sagen, bereits in der ersten Verliebtheit. Mein Tipp wäre, darüber zu sprechen, wenn man schon ein bisschen Vertrauen zueinander hat und es gerade besonders gut läuft. Dann ist ein guter Zeitpunkt, den anderen über alte Familiengeschichten aufzuklären und zu klären, was man im gemeinsamen Leben anders machen möchte. Zu viele Menschen haben Angst, etwas kaputtzumachen, wenn sie über schmerzhafte Themen sprechen. Die meinen, dass man ein Thema überhaupt erst zu einem Problem macht, indem man darüber spricht. Aber so ist es nicht.

STANDARD: Nun läuft es bei den meisten Paaren aber nicht so harmonisch ab. Angenommen, die erste Verliebtheit ist längst abgeklungen, man findet nicht mehr alles aneinander bedingungslos toll und Differenzen sind bereits an der Tagesordnung. Die Situation ist so verfahren, dass ein wohlwollendes Gespräch nicht mehr möglich ist. Was tut man dann?

Roland Bösel: Da ist die Nähe verloren gegangen – und es geht nur noch um den Machtkampf. Hier ist es dann eher die Aufgabe, wieder Nähe aufzubauen, damit man wieder miteinander sprechen kann. In solchen Momenten ist es wichtig, sich Hilfe von außen zu holen. Das kann ein guter Freund oder eine gute Freundin sein, die einem gut gewogen ist, oder auch Hilfe von Profis. Damit die Sicherheit in der Beziehung wieder aufgebaut wird. Dann können auch die Verletzungen, die passiert sind, aber auch die Wünsche und Sehnsüchte, die nicht erfüllt werden, ausgesprochen werden. Dadurch kann man einander vergeben, und dadurch kommt auch die Nähe zurück. Die typischen Phasen sind: Verliebtheit, dann kommt der Alltag und die Verbindung geht verloren – das macht uns oft so viel Angst, dass wir auf den anderen hinhauen oder uns zurückziehen. Die, die sich zurückziehen, müssen lernen, wieder rauszukommen. Und die, die hinhauen, müssen lernen durchzuatmen.

Sabine Bösel: Wir sprechen scherzhaft von 'Schildkröten' und 'Hagelstürmen', den beiden Typen in einer Beziehung. Die Fachbegriffe dazu sind Minimierer und Maximierer. Der Minimierer zieht sich zurück oder unterwirft sich, der Maximierer greift an, wenn es gefährlich wird – oder flüchtet.

STANDARD: Gibt es ein Muster, wer welche Rolle übernimmt?

Roland Bösel: Bei ungefähr zwei Dritteln der Paaren ist es so, dass die Frau der Hagelsturm und der Mann die Schildkröte ist. Aber es geht auch umgekehrt. Dafür gibt es ganz prominente Beispiele. Donald Trump, der ehemalige Präsident der USA, ist ein Hagelsturm und sucht sich schüchterne Frauen. Auch dieses Verhalten eignet man sich in der Kindheit an.

STANDARD: Donald Trump erlitt eine rigide Erziehung, wurde mit 13 aufs Militärinternat geschickt. Gleichzeitig hat ihm sein Vater ein Gefühl von Überlegenheit vermittelt. Also auch hier: eine Prägung.

Roland Bösel: Es wurde bestimmt nicht sehr vorsichtig mit ihm umgegangen, er hat auch Gewalt erlebt. Das hat natürlich eine Vorbildwirkung. Bei mir ist es so: Mein Vater war ein Hagelsturm, und ich habe dieses Verhalten von ihm kopiert. Auch heute noch passiert es mir, dass ich laut werde, wenn die Gefühle mit mir durchgehen. Im Februar hatten meine Frau und ich einen Streit, da war ich so unreif. Ich erzähle Ihnen jetzt nicht, was ich gemacht habe, aber ich war wirklich ekelhaft. So ekelhaft, dass die Leute auf der Langlaufloipe einen Riesenbogen um uns gemacht haben.

Sabine Bösel: Mein Vater dagegen war eine Turboschildkröte. Ich bin ihm sehr ähnlich. Lange Zeit habe ich immer geschwiegen, wenn es ein Problem gab. Roland und ich gehören also zu dem Drittel der Paare, wo die Frau die Schildkröte und der Mann der Hagelsturm ist. Übrigens bin ich dann auf der Langlaufloipe als Kampfschildkröte explodiert.

STANDARD: Wie kommen Hagelstürme und Schildkröten nach einem Streit auf einen Nenner?

Sabine Bösel: Wichtig ist, dass sich beide wieder beruhigen, sich wieder normalisieren. Dann können sie sich einen Zeitpunkt ausmachen, um noch einmal in Ruhe zu sprechen. Auch hier gilt wieder: Wenn man weiß, wo ein Problem herkommt, ist es ein bisschen leichter zu klären. Denn man weiß dann, dass das die eigene Prägung ist, dass man es so gelernt hat.

STANDARD: Wann ist denn der Zeitpunkt zu sagen: Wir sind einfach zu unterschiedlich, wir haben eine zu unterschiedliche Geschichte, trennen wir uns besser?

Roland Bösel: Die Unterschiedlichkeit ist nicht das Problem, sondern der Umgang damit. Wenn gestritten wird, bis einer hinhaut, ist eine klare Grenze überschritten. Bei Gewalt hört es auf. In den 44 Jahren, wo die Sabine und ich zusammen sind, haben wir schon auch gerangelt. Aber dass einer die Hand hebt, das hätte es nie gegeben.

Sabine Bösel: Es ist natürlich auch immer die Frage, wie viel Energie man aufwenden will, um eine Beziehung zu retten. Wenn die Konflikte so groß sind, dass man jahrelang daran arbeiten müsste, ist es auch legitim zu sagen: Das ist mir zu kompliziert. Manchmal hat jemand in seiner Kindheit ein richtiges Trauma erlebt. Und wenn diese Person auf jemanden trifft, der einem diese schmerzhafte Erfahrung immer wieder in Erinnerung ruft, kann es sein, dass es irgendwann nicht mehr funktioniert. Dann wäre vielleicht eine Trennung besser. Aber eine so große Entscheidung sollte man sich gut überlegen. Offen für Neues zu sein ist jedenfalls wichtig – ob miteinander oder mit anderen Partnern. (Interview: Lisa Breit, 1.5.2021)