Eine Million Menschen pflegen in Österreich Angehörige. 201 davon sind angestellt.

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Elf Jahre lang pflege Linda ihre Großmutter, nebenher auch noch den Onkel, sonntags kümmerte sie sich gemeinsam mit ihrem Mann um dessen demenzkranken Vater. "Wenn du willst, dass ich sterbe, dann schick mich ins Heim", soll die Großmutter damals gesagt haben. "Ich habe nicht nur meinen Job, sondern mein Leben dafür aufgegeben", sagt Linda heute. Und aus ihrem Umfeld wurde sie gefragt, ob sie denn gar nichts arbeite.

Mittlerweile lebt von ihren Pfleglingen nur noch der Onkel, doch auch den zu versorgen ist ein Fulltime-Job. Er lebt nebenan, Linda schupft ganz nebenbei zwei Haushalte. Ihren Job hat sie schon vor über zehn Jahren aufgegeben. "Aber das sind Dinge, die keiner sieht", sagt sie. Frustriert will Linda dennoch nicht klingen: "Ich mache das aus Überzeugung."

Ankündigungen, denen wenig folgte

Dass Menschen ihre gesamte Tages- und Nachtzeit aufwenden, um Angehörige zu pflegen, ist in vielen Fällen immer noch eine Selbstverständlichkeit. Obwohl viele pflegende Angehörige weit mehr als 40 Stunden pro Woche damit beschäftigt sind, sich körperlich und psychisch enormen Belastungen aussetzen, bekommen sie dafür kein Geld und in vielen Fällen auch keine Wertschätzung.

Sie anzustellen, ihnen damit Urlaubs- und Pensionsansprüche zu verschaffen und überhaupt erst eine Entlohnung, wird zwar debattiert, ist aber eine Nische. Das Burgenland preschte vergangenes Jahr vor und startete ein Modell, das für viele vielversprechend klang. Einige Bundesländer und der Bund machten Anstalten nachzuziehen. Passiert ist das bisher kaum.

Drei Viertel sind Frauen

Fälle wie jener von Linda sind jedenfalls keine Einzelfälle: Fast eine Million Österreicherinnen und Österreicher pflegen einen Angehörigen. Ein Drittel davon ist laut der Arbeiterkammer (AK) berufstätig. 73 Prozent von ihnen sind Frauen. Mehr als 200.000 Menschen werden ausschließlich von Angehörigen gepflegt. Zum Vergleich: Knapp 100.000 Menschen – das ist ein Fünftel aller Pflegegeldbezieher – sind in Pflegeheimen untergebracht, 150.000 nehmen mobile Dienste in Anspruch.

Die Arbeit dieser Angehörigen hat sich durch die Corona-Krise verschärft: Die Volkshilfe befragte 100 pflegende Angehörige, die den Demenzhilfefonds in Anspruch nehmen, wie es ihnen geht. Zwei Drittel gaben an, dass die Betreuung durch die Pandemie aufwendiger geworden ist. Auch weil aufgrund der Ausgangsbeschränkungen seltener andere Familienmitglieder kamen und mithalfen, stieg der Arbeitsaufwand bei einem Drittel um mehr als zwei Stunden am Tag, bei 14 Prozent sogar um vier Stunden am Tag.

Angestellt sind von der Million pflegender Angehöriger genau 201, alle davon im Burgenland. Dort bekommen sie einen Mindestlohn – je nach Stunden und Pflegestufe bis zu 1.700 Euro netto –, haben außerdem eine soziale Absicherung: Sie sind sozial-, kranken-, unfall- und pensionsversichert. Auch wenn sich das Modell im Osten nicht rasend schnell ausbreitet, stieg die Zahl der angestellten pflegenden Angehörigen: Gestartet war man mit 170. Eigentlich, so hieß es vor gut einem Jahr, würden etwa 500 Personen die Voraussetzungen für das Modell erfüllen.

Keine Reisen, kein Kaffee

Für Linda klingt dieses Modell nach "Science-Fiction", sagt sie. Seit über zehn Jahren hat sie keinen Urlaub mehr gemacht. "Ich hab mir immer gesagt: Nach der Matura meiner Tochter fahre ich eine Woche weg", sagt Linda. Jetzt ist die Tochter fast 30, und Linda war seither nicht einmal einen Tag lang am Berg. Selbst ein Kaffee bei Bekannten geht nicht – zumindest dann nicht, wenn der Onkel nicht mit eingeladen ist. Einmal die Woche Lebensmittel zu kaufen ist für Linda ein Highlight. Weil sie niemanden in ihrem Umfeld verletzen will, wurden in diesem Text Lindas Name und Details zu ihren Angehörigen geändert.

Krankenversichert ist sie mit ihrem Mann, erzählt Linda. Ihre Pensionsversicherung übernimmt der Bund – eine Leistung, die der Staat vielen pflegenden Angehörigen anbietet. In manchen Fällen kann der Bund auch zuschießen, wenn eine pflegende Angehörige verhindert ist und deswegen eine Ersatzpflegekraft einspringen muss. Manchmal steckt ihr der Onkel einen Zwanziger zu, erzählt Linda, auch bei der Großmutter hatte sie freilich kein Anrecht darauf, bezahlt zu werden.

Oberösterreich startet Pilotprojekt

Allen voran meinte Wien im Februar 2020, man würde das burgenländische Modell gern übernehmen. Später hieß es, man denke darüber zumindest nach. Nun, 15 Monate später, heißt es: Man sei in "regem Austausch" und schaue sich an, ob und wie man diese Erfahrungen auch für Wien nutzen könne.

Aus anderen Bundesländern, etwa Tirol und Salzburg, kam schon damals ein klares Nein. "Eine Verstaatlichung der Pflege und der Familie kann nicht das Ziel sein", hieß es vom Tiroler Pflegelandesrat Bernhard Tilg (ÖVP). Kärnten und Oberösterreich hingegen bekundeten Interesse. In Oberösterreich soll nun im Sommer ein Pilotprojekt starten: 30 pflegende Angehörige sollen angestellt werden. In einem ersten Schritt geht es um Angehörige von beeinträchtigten Personen, Betreuende von Seniorinnen und Senioren sollen in einem zweiten Schritt dazukommen.

In der Steiermark, wo Linda lebt, gibt es das Angebot nicht. Das Gesundheitsministerium meinte im Vorjahr, man werde sich das Modell im Burgenland anschauen – das war allerdings vor einem Ministerwechsel und vor einer Pandemie. In den aktuellen Plänen zur Pflegereform ist "Entlastung für pflegende Angehörige schaffen und Demenz begegnen" einer von fünf zentralen Themenbereichen. Die Überlegung, Angehörige für ihre Arbeit zu bezahlen, kommt nicht vor. (Gabriele Scherndl, 11.5.2021)