Die Molekularbiologin Luisa Cochella betrachtet Punktmutationen (rote Punkte) in der Struktur von Sars-CoV-2. Die Mutation E484K im Spikeprotein hat besonders unangenehme Eigenschaften.

APA/ROLAND SCHLAGER

Es ist einmal mehr das Bundesland Tirol, das mit unangenehmen Neuigkeiten in Sachen Virusvarianten aufwartet. Nachdem es dort – nach Warnungen der Innsbrucker Virologin Dorothee von Laer – gelungen ist, die Verbreitung der "südafrikanischen" Variante B.1.351 gut unter Kontrolle zu bringen, macht nun eine weitere Virusvariante Sorgen: nämlich die "britische" Variante B.1.1.7 mit der zusätzlichen Mutation E484K, kurz B.1.1.7+E484K.

Die ansteckendere Mutante B.1.1.7 allein ist in Österreich längst der Normalfall und hat sich flächendeckend durchgesetzt. Die Mutation E484K kommt im "B.1.1.7 -Normalfall" nicht vor, wohl aber in der unangenehmen "südafrikanischen" Variante B.1.351 und der "brasilianischen" Variante P.1. Dabei sorgt E484K dafür, dass sich das Virus der Immunantwort durch Impfungen oder Infektionen entziehen kann, weshalb sie auch als "Fluchtmutation" bezeichnet wird.

Erste Fälle von B.1.1.7+E484K waren bereits vor Wochen aus Tirol gemeldet worden, während es in anderen Bundesländern bis jetzt nur sehr seltene Einzelfälle blieben. Doch zuletzt nahm ihre Zahl in Tirol stark zu. Im bislang jüngsten offiziellen Ages-Bericht vom 14. April waren es noch insgesamt 448 Fälle. Laut Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften sind aktuell (22. April) hingegen bereits laut Voranalysen insgesamt 1.800 Fälle bekannt, davon ist in etwa die Hälfte "aktiv".

Im aktuellen Bericht der Corona-Kommission vom Donnerstagabend ist der Anteil der B.1.1.7+E484K-Fälle in Tirol von 0,3 Prozent in Kalenderwoche 9 auf 52 Prozent in KW 15 angestiegen (594 Fälle). Damit ist die Variante in Tirol bereits dominant. In den übrigen Bundesländer trat die Variante B.1.1.7+E484K in KW 15 hingegen nur sporadisch auf: Burgenland (1 Fall), Niederösterreich (3 Fälle), Oberösterreich (1 Fall), Salzburg (3 Fälle), Steiermark (1 Fall), Vorarlberg (3 Fälle).

Diese Fallzahlen in Tirol sind auch im internationalen Vergleich sehr hoch: "Auf der internationalen Sars-CoV-2-Genomplattform Gisaid sind aktuell nur rund 300 Fälle von B.1.1.7+E484K gemeldet", sagt Bergthaler, der aber eine höhere Dunkelziffer international nicht ausschließt.

Viele offene Fragen

Warum ausgerechnet schon wieder Tirol ein Hotspot für eine beunruhigende Virusvariation ist, wird laut Bergthaler gerade in Zusammenarbeit mit der Ages erforscht. Etliche Fragen sind offen: Woher stammte die mutierte Variante? Warum hat sich die mutierte Variante B.1.1.7+E484 ausgerechnet in Tirol so schnell ausgebreitet, während sie in anderen Ländern auf Einzelfälle beschränkt blieb? Auch ein Zusammenhang mit der Impfaktion im Bezirk Schwaz wird untersucht.

Bergthaler verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine relativ neue Studie im Fachblatt "Nature", die allerdings nur im Laborversuch zeigte, dass B.1.1.7+E484K die immunisierende Wirkung nach der ersten Biontech/Pfizer-Impfung um das Zehnfache reduzierte und nach der zweiten immer noch um das Sechsfache. Kernaussage der Studie: Das Auftreten der E484K-Mutation in einem B.1.1.7-Hintergrund stellt eine Gefahr für die Wirksamkeit des Biontech/Pfizer-Impfstoffs dar.

Das bedeutet nun freilich nicht, dass die Impfung von Biontech/Pfizer in der Praxis nicht mehr schützt, denn erstens handelt es sich um eine Studie im Labor und in vitro, also mit Seren im Reagenzglas. Und zweitens dürfte jedenfalls ab 14 Tagen nach der zweiten Impfung "in echt" trotz der herabgesetzten Wirksamkeit ein nach wie vor guter Schutz vor Covid-19-Erkrankungen gegeben sein. Schließlich war ja die "südafrikanische" Variante B.1.351, die ebenfalls die Fluchtmutation E484K aufweist, der Grund dafür, warum im Bezirk Schwaz die Impfaktion mit dem Vakzin von Biontech/Pfizer vorgezogen wurde.

Weitere Vorsichtsmaßnahmen

Bei politischen Empfehlungen zur Bekämpfung der weiteren Ausbreitung von B.1.1.7+E484K ist Bergthaler zurückhaltend. Er verweist allerdings einmal mehr darauf, dass wie immer in der Pandemie der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle spiele. Bergthalers Kollege Ulrich Elling ist auf Twitter im Zusammenhang mit den jüngsten Entwicklungen in Tirol etwas konkreter: "Testen alleine reicht nicht mehr, Zeit für verordnete Kontaktreduktion."

Offensichtlich ist, dass uns die Fluchtmutation E484K in den nächsten Monaten noch mehr beschäftigen wird, wie auch Bergthaler sagt: "Diese Mutation kommt ja nicht nur in der 'brasilianischen' und der 'südafrikanischen' Variante vor, sondern auch in anderen Kombinationen und etwa in der 'indischen' Variante in der leicht abgewandelten Form E484Q." In der Biologie spricht man in dem Fall von einer "konvergenten Evolution" – eine für das Virus vorteilhafte genetische Veränderung tritt in verschiedenen Virenstämmen unabhängig voneinander auf. (Klaus Taschwer, 22.4.2021)

PS: Sehenswertes Video von "Nature" über Virusvarianten wie B.1.1.7 oder P.1.

nature video

Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde um 14.30 Uhr um einen Absatz zur Wirksamkeit des Impfstoffs von Biotech/Pfizer bei B.1.1.7+E484K ergänzt und um 0.00 um die Daten aus dem neuen Bericht der Corona-Kommission.