Zu unserem Riechsinn gehören spannende Grenzphänomene: Der Duft von Pfefferminze kann Kindheitserinnerungen wecken, uns aber auch Kälte spüren lassen, weil der entsprechende Rezeptor ebenfalls durch Temperaturveränderungen aktiviert wird. Neben diesen Alltagserfahrungen gibt es ganz besondere Formen kombinierter Reize, die nur manche Personen erleben. Dazu gehört, wer einen Klang schmeckt, eine Bewegung hört oder Zahlen in bestimmten Farben sieht. Solche Effekte können durch halluzinogene Drogen hervorgerufen werden – oder durch natürliche Synästhesie.

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Visuelle Reize hören oder riechen? Für viele Künstler, unter ihnen Wassily Kandinsky (siehe Maskenmotiv), sind synästhetische Phänomene eine wichtige Inspiration.
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Nach aktuellen Schätzungen betrifft diese besondere Art der Wahrnehmung im Schnitt eine von 25 Personen. Die Neigung dazu ist wahrscheinlich angeboren und erblich. "Manche Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass wir vielleicht alle mit Synästhesie geboren werden, sie aber in den ersten Lebensjahren bei den meisten verlorengeht", sagt Julia Simner, Professorin für Neuropsychologie an der Universität Sussex in Großbritannien. Das Gehirn spielt eine wichtige Rolle, wie bildgebende Verfahren zeigten: "Synästheten haben beispielsweise eine andere Organisation der weißen Substanz, die verschiedene Hirnregionen miteinander verbindet."

Hohe Dunkelziffer

Forschende gehen davon aus, dass Synästheten durch ihre verbundenen Wahrnehmungen unter anderem beim Erinnern unterstützt werden. Das Phänomen kann im Alltag für manche Personen aber auch überfordernd sein. Manche sind sich ihrer ungewöhnlichen Wahrnehmung nicht bewusst oder so daran gewöhnt, dass sie annehmen, allen anderen gehe es ähnlich. Andere wollen nicht über eine vermeintliche "Störung" sprechen – was dafür sorgt, dass die Dunkelziffer hoch sein dürfte.

Einige Menschen mit Synästhesie betätigen sich wegen ihrer speziellen Wahrnehmung künstlerisch. Der russische Maler Wassily Kandinsky (1866–1944) könnte einer von ihnen gewesen sein. Falls er selbst nicht betroffen war, interessierte er sich zumindest für das Thema: Kandinskys abstrakte Werke stellen etwa seine Assoziationen von Farben mit anderen Sinnen dar. So beschrieb er die Farbe Gelb als "spitz" und verglich sie mit dem Klang einer Trompete. Blau war für den Maler hingegen "aromatisch" und konnte in hellen Tönen wie eine Flöte, dunkler eher wie ein Cello klingen.

Knoblauch in Farbe

Mehr als 80 mögliche Formen an Wahrnehmungskombinationen wurden bisher beschrieben. Synästheten erleben die Welt nicht selten in mehreren Arten dieser Wahrnehmungsweise gleichzeitig. Zu den häufigsten Arten gehört die Graphem-Farb-Synästhesie, also die farbliche Wahrnehmung von Buchstaben oder Zahlen, die auf andere neutral wirken. Sie betrifft rund 60 Prozent der Synästheten, was wohl dazu beiträgt, dass sich die Sprachwissenschaften rege an der Erforschung beteiligen.

Asifa Majid, Linguistin und Psychologieprofessorin an der Universität York, untersuchte eine eher seltene Form der Synästhesie: das mit dem Riechen verknüpfte Wahrnehmen bestimmter Farben. Eine Studienteilnehmerin denkt zum Beispiel, sobald sie Knoblauch erschnuppert, an ein hellbraunes Rechteck. Eine andere assoziiert den gleichen Geruch zwar mit keiner Form, aber auch mit der Farbe Braun.

Erinnerungshilfen

In der kleinen Studie verglich Majid sechs Synästhetinnen mit einer Kontrollgruppe. Diejenigen mit verknüpfter Geruch-Farb-Wahrnehmung waren im Durchschnitt besser darin, Düfte zu benennen. Darüber hinaus konnten sie verschiedene Schnupperproben, aber auch Farbtöne besser voneinander unterscheiden.

Anhand dieser Arbeit werden außerdem verschiedene Aspekte der Synästhesieforschung deutlich. Erstens: Häufig ist es nicht leicht, eine große Anzahl an Probanden zu untersuchen, weil wenige Menschen von dem Phänomen betroffen sind. Gerade Geruchssynästhesie kommt relativ selten vor, zirka sechs Prozent der Synästheten assoziieren Düfte mit visuellen Reizen. Virtuelle Geruchstests sind schwierig – für andere Formen werden zunehmend virtuell Probanden eingebunden, die auch in Onlinegruppen untereinander vernetzt sind. Durch Stichproben mit hunderten Beteiligten werden die Ergebnisse immer aussagekräftiger.

Wahrnehmungstrends

Ein zweiter Punkt: Bei vielen Studien zum Thema ist der Frauenanteil hoch. Daher vermutete man für eine Weile, das Phänomen könnte mit dem X-Chromosom zusammenhängen. Laut aktuellem Wissensstand gibt es für einen solchen Zusammenhang jedoch keine genetischen Hinweise. Die Synästhesie-Spezialistin Simner vermutet, dass etwas anderes hinter dem Geschlechterverhältnis steckt: "Eine mögliche Ursache ist, dass Männer sich seltener freiwillig als Probanden melden und auch seltener ungewöhnliche Erfahrungen wie Synästhesie zugeben."

Zudem verweist Simner auf gewisse Trends bei der Wahrnehmung, und diese sind am Beispiel der Geruchsstudie erkennbar. Immerhin verknüpften mehrere Probandinnen Knoblauchgeruch mit Brauntönen. Bei Synästheten, die Buchstaben farbig sehen, wird das "A" zumindest in der englischen Sprache häufig rot gesehen. Dabei stellt sich mitunter die Frage, inwiefern sich das Phänomen aus genetischen und erlernten kulturellen Komponenten zusammensetzt.

Buntes Alphabet

Interessant sind hierfür Studien, die Farbzuweisungen von Buchstaben oder Wochentagen in verschiedenen Sprachen, Alphabeten und Kulturkreisen vergleichen. Nicht immer liegt der Fokus dabei auf Synästhesieerfahrungen, aber es gibt Hinweise darauf, dass ähnliche Trends bestehen – egal, ob man die Gruppe der Synästheten oder die der Nichtsynästheten befragt. Sonntage sind durchschnittlich oft weiß, Montage eher rot, genau wie das "A", obwohl ebenfalls Unterschiede zwischen Sprachen auffallen. In mehreren zeichnet sich allerdings der erste Buchstabe im Alphabet aus, der mit besonders auffälliger Farbgebung assoziiert wird. Laut den Forschenden scheinen solche universellen Tendenzen also zu bestehen.

Auch das Verknüpfen von Düften mit Farben wird in sprachlicher Hinsicht analysiert. Die Linguistin Asifa Majid verglich etwa Menschen, die Niederländisch sprechen, mit Thailändisch-Sprechenden sowie mit den Maniq, einer Jäger-Sammler-Gesellschaft mit eigener Sprache. "Während Niederländer Gerüche typischerweise anhand ihrer Quelle beschreiben, zum Beispiel ‚es riecht nach Banane‘, verwendet man in den anderen beiden Sprachen häufig abstrakte Begriffe", sagt Majid.

Wenn die Probanden Düfte quellenspezifisch beschrieben, wählten sie dafür tendenziell eine dazu passende Farbe, wie Gelb für Bananengeruch. Die jeweilige Sprache scheint allgemein also eine Rolle für solche Assoziationen zu spielen, auch wenn Trends natürlich nicht für den Einzelfall sprechen. "Und wenn man zwei Synästheten zusammenbringt, streiten sie sich typischerweise über die Farbe der Buchstaben", sagt Simner. (Julia Sica, 24.4.2021)

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