Betonen unfehlbar die Würde des intelligiblen Ichs: formschöne Brillen, nicht nur geschaffen, um gedankenschwer an ihren Bügeln zu kauen.

Foto: Elmar Gubisch

Heute, am Welttag der Brille, muss niemand mehr, dessen Augen an Brechungsfehlern leiden, durch geschliffenen Beryll hindurchlinsen. Kein hilfloser Greis, der sich milchigen Auges den Leitartikel im Lieblingsblatt vom Enkelkind vorlesen lassen muss. Als spiegelnde Zier befindet sich die Schaumaschine, modernisiert, von Optikern verschönt, im Besitz aller: von Jung und Alt, von Abergläubisch und Belesen, von Mann und Frau und wissenshungrigen Drittgeschlechtlichen.

Das Nasenfahrrad ist seit Anbeginn der Buchstabengläubigkeit womöglich der Menschen wichtigstes Zubehör. Exzessiv genützt wird es von Sitzriesen und Leseratten, die ihre Nasen in Druckerzeugnisse stecken oder gebannt auf Flimmerkästen starren. Längst haben Brillen ihr sauertöpfisches Image eingebüßt. Ob schwach getönt oder mit kessen Bügeln versehen, ist der Menschen unentbehrlichste Prothese ein Mittel, das zu lebenslanger Klarsicht verhilft.

Gleich, ob die Benutzerin einen bügellosen Kneifer bemüht, um ihre Umgebung zu prüfen, oder ob ein Sattel dem Gesichtserker krönend aufsitzt: Brillen betonen unfehlbar die Würde des intelligiblen Ichs. Die Brechkraft von Linsen sorgte bereits in der Antike für Aufsehen. Die von Plinius d. Ä. erwähnten Smaragde, die sich Kaiser Nero vor die Pupillen hielt, dürften dem Lyra schlagenden Feuerteufel als Sonnenschutz gedient haben.

Ausweis der Emanzipation

Erfunden wurde die augennahe Sehhilfe Ende des 13. Jahrhunderts, wahrscheinlich in Venedig. Mönche steckten sich zumeist Nietgläser vor die Augen. Zur Behebung von Alters- und Übersichtigkeit wurden in der Barockzeit plankonvexe, später auch bikonvexe Sammellinsen üblich. Der eigentliche Siegeszug der Brille ist eng mit der Emanzipation des Bürgertums verquickt. Von der Fron schweißtreibender Arbeit befreit, betrieb die tonangebende Klasse nicht nur Leseexerzitien in Sachen Heiliger Schrift. Vor allem ochste die Elite der Ingenieure und Maschinenbauer wissenschaftliche Literatur.

Als individuelles, dem Eigensinn förderliches Accessoire kann die Brille, ob bi- oder trifokal, durch keine Laserbehandlung ersetzt werden. Der Kneifer schien einst probat, um der Debütantin auf dem Ball diskret in den Ausschnitt zu gucken. Modernere Intellektuelle beweisen den Grad ihrer Durchgeistigung durch Kauübungen am Bügel. Oder sie hinterlassen der Welt ihre blutbefleckte Brille als Ausweis ihrer Unsterblichkeit – wie John Lennon. (Ronald Pohl, 23.4.2021)