Soziologe Christian Fleck wundert sich in seinem Gastkommentar über Schriftsteller Doron Rabinovici, der Finanzminister Gernot Blümel aufgefordert hat, "wegen des Anstands" zurückzutreten. Eine Replik.

Doron Rabinovici hat also entdeckt, dass Gernot Blümel keinen Anstand hat. Weniger zumindest als Prinz Andrew und Karl Blecha. So konnte man es hier lesen (siehe "Im Amt, aber ohne Würde"). Nach all den Chat-Texten, der dreist gespielten Vergesslichkeit im U-Ausschuss, einem Notebook, das er nicht besitzt und das dann doch spazieren geführt wird, nun auch noch Entschlagungen wegen der Gefahr der Selbstbelastung in einem anhängigen Strafverfahren durch Blümel. Jetzt reicht’s, meint Rabinovici, doch er vergaß hinzuzufügen, dass auch hier die Unschuldsvermutung gilt, womit ich nicht das presserechtliche ceterum censeo meine, sondern auf den Anstand zurückkommen will, der Rabinovici so wichtig ist.

Chat-Texte und angebliche Vergesslichkeiten: Finanzminister Gernot Blümel ist unter Druck.
Foto: APA/Schlager

Vielleicht verfügt Herr Blümel nicht über Anstand. Vielleicht gibt es der Farbblindheit ähnlich so etwas wie Anstandsblindheit.

Was tun wir dann aber, wenn sich herausstellt, dass der amtierende Bundesminister für Finanzen nicht nur erste Anzeichen von Jugenddemenz aufweist, sondern auch noch blind gegenüber den Anstandsanmaßungen ist, die vom Schriftsteller-Historiker treffend formuliert wurden? Müssen wir dann unsere so schöne Verfassung ergänzen und Anstandsgeruchssinn und Erinnerungsvermögen vor Eintritt in ein politisches Amt testen lassen?

Ich denke: Nein. Rabinovici irrt mit seiner Forderung nach Rücktritt wegen des Anstands.

Rabinovici irrt nicht nur, er ist auch ein wenig unaufrichtig. Sein Appell wäre glaubwürdig, wenn man annehmen dürfte, dass er bei der letzten Nationalratswahl sein Kreuzerl bei Blümels Partei gemacht hat (oder dessen Aufstieg gar durch eine Vorzugsstimme beflügelt hat). Da das mit gutem Grund ausgeschlossen werden kann, wäre es wohl besser gewesen, Rabinovici hätte Blümels Wählerinnen und Wähler angesprochen und ihnen ins Gewissen geredet. Das Ende eines Politikers bestimmen nämlich dessen Wählerinnen und Wähler. Direkt bei Wahlen und dank der Sonntagsfragen nahezu wöchentlich indirekt durch die Weigerung, Politiker B. zu vertrauen. Wenn das einige Zeitlang genug (befragte) Wählerinnen und Wähler tun, werden Parteifreunde aktiv und drängen jemanden zu einer Auszeit oder loben ihn weg.

Moralisches Gezetere

Ich bin alt genug, mich an eine Zeit zu erinnern, in der andauernd irgendwelche Moralapostel den Anstand beschworen haben, um uns damals Jungen dies oder das zu untersagen, was sie uns eigentlich rundweg verbieten wollten.

Die, die Anstand im Munde ihrer politischen Rede führen, sehen sich stets als Sprecher einer gespürten Mehrheit moralisch Rechtschaffener. Einst wollten die Moralunternehmer lange Haare, Schmusen im Park und dergleichen verbieten, heute moralisieren Linksliberale gegen "Neofeschisten". Vor 50 Jahren war uns klar, dass das moralische Gezeterte beweist, dass sie die Macht nicht mehr hatten, ihre Weltsicht anderen aufzuoktroyieren. Wer seinen Willen auch gegen Widerstand durchsetzen kann, also Macht besitzt, braucht nicht zu lamentieren, dass es den anderen an Anstand fehle.

Bleibt die eigentlich interessante Frage, was denn die, die "die Familie" ins Amt gewählt haben, über die eingangs in Erinnerung gerufenen merkwürdigen Verhaltensweisen, denken. (Christian Fleck, 23.4.2021)