Die Realität liefert das Material für sein Schreiben: Emmanuel Carrère wurde auf dem Dokumentarfilmfestival in Nyon mit einem Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

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Die Pandemie hält Emmanuel Carrère momentan für kein interessantes Sujet, obwohl er sich als Autor stets für den Einbruch des Realen begeistert: "Es muss Zeit vergehen, dann vielleicht." Auf dem Dokumentarfilmfestival Visions du réel in Nyon in der Westschweiz erhielt der französische Autor gerade einen Preis für sein Lebenswerk. Er hat fürs Kino gearbeitet, vor allem aber ist er für seine Bücher berühmt, in denen er eine eigenständige Form geschaffen hat: Er tritt meist selbst in ihnen auf und verwebt reale Fälle und Personen zu schillernden Gegenwartsdiagnosen. In seinem neuen Buch Yoga, das in Frankreich zum Bestseller wurde, hat er sich mit seiner Depression beschäftigt.

STANDARD: Fast alle Ihrer Bücher weisen autobiografische Züge auf. In Ihrem jüngsten schreiben Sie von einer schweren persönlichen Krise, die Sie sogar in die Psychiatrie gebracht hat. Zugleich geht es um Yoga. Wie geht das zusammen?

Carrère: Wenn man ein dokumentarisches Buch schreibt, arbeitet man mit der Realität. Man muss es so hinkriegen, dass die Realität auf das antwortet, was man tut. Manchmal geschieht das sehr unerwartet. Yoga verbindet widersprüchliche Aspekte meines Lebens. Meine Depression, im Zuge derer mir eine bipolare Störung diagnostiziert wurde, den Terroranschlag auf Charlie Hebdo, bei dem mein Freund Bernard Maris ermordet wurde. Yoga wurde das Mittel, das alles zu verbinden.

STANDARD: Zugleich ist in dieser Zeit Ihre Ehe zerbrochen. Doch Ihre Ex-Frau Hélène Devynck wollte im Buch nicht mehr vorkommen. Sie hat das dann auch juristisch erwirkt.

Carrère: Hélène ist bereits in meinen letzten Büchern vorgekommen. Nach der Scheidung habe ich ihrem Wunsch zugestimmt – freilich nur widerwillig, weil sie ja ein enorm wichtiger Mensch in meinem Leben war. Man kann der Meinung sein, dass sie im Buch nun fehlt. Zugleich ist dies aber zu einem interessanten Weg geworden, um mit der Trennung umzugehen. Hoffe ich zumindest.

STANDARD: Sind diese Einschränkungen am Ende das, was Sie eigentlich suchen?

Carrère: Es ist ein wenig so wie bei der Arbeit an einem Film. Man hat unterschiedliche Szenen auf dem Schneidetisch herumliegen, aber man kennt die Geschichte noch gar nicht, die sie erzählen. Man findet das erst heraus, indem man die Filmstreifen aneinanderfügt.

STANDARD:Sie schreiben, wenn man so will, unter dem Label der "Wahrheit". Trumps Begriff der Fake-News hat vielen Menschen das Verhältnis zur Wahrheit vergiftet. Wie tauglich ist das Konzept der Wahrheit für einen Autor?

Carrère: Es gibt einen Satz von Kafka, den ich sehr liebe: "Freilich, unwissend bin ich, die Wahrheit bleibt jedenfalls bestehen." Das bedeutet, dass ich zwar keinen Zugang zur Wahrheit habe, aber dass es sie trotzdem gibt. Deshalb denke ich, dass es eine der Aufgaben eines Autors bleiben muss, der Ordnung der Wahrheit zu folgen. Man kann bescheiden beginnen: mit Genauigkeit. Wir stimmen also einer Wahrheit zu, selbst wenn wir immer einen Schritt von ihr entfernt blieben. Trotzdem können wir sagen: Sie existiert. Wir sind definitiv keine Gefangenen von Fake-News.

STANDARD: In allen Ihren Büchern geht es um die unglaublichen Windungen des Realen. In "Der Widersacher" erfindet ein Mann eine Lebenslüge und ermordet seine Familie. "Limonow" erzählt von einem russischen Rechtsextremisten, der mehrere Leben zu haben scheint. Ab wann interessieren Sie sich für einen Menschen?

Carrère: Wenn man als Maler Porträts anfertigt, sucht man wohl auch Modelle, die besonders starke Züge mitbringen. Bei Fiktionen gibt es in der Regel diese Notwendigkeit, alles nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Mich interessiert aber, dass es diese Wahrhaftigkeit in der richtigen Welt nicht gibt. Die Geschichte von Jean-Claude Romand in Der Widersacher kennt keine Wahrscheinlichkeit, als erfundene Geschichte wäre sie deshalb schlecht. Aber in Wirklichkeit ist alles so geschehen.

STANDARD: Man könnte sagen, Sie erforschen die Kontingenz des Daseins. Hat die Arbeit daran auch einen kathartischen Effekt?

Carrère: Wenn man in die Realität eindringt, dann exponiert man sich auch dementsprechend – und die Realität kann dann wiederum auf sehr heftige Art reagieren. Das ist die Gefahr. Mir ist das schon mehrmals passiert. Umgekehrt macht man das genau deshalb, weil man Gefallen an dieser Gefahr findet.

STANDARD: Trifft der gerade sehr populäre Begriff der Autofiktion diesen Zugang?

Carrère: Das ist wohl eine Frage der Terminologie. Einige meiner Bücher wie Yoga sind autobiografisch. Dann gibt es Bücher wie Limonow oder Das Reich Gottes, in denen ich über andere Themen spreche. Doch ich spreche immer aus meiner Sicht. Betrachten wir Limonow: Sie finden darin eine Form von Biografie über eine wandelbare Figur, zugleich handelt es sich um ein Buch über das Ende des Kommunismus. Der Autor ist vielleicht etwas zu präsent, aber dies bleibt doch dezent.

STANDARD: Sie haben Ihre Position einmal als die eines Zeugen bezeichnet. Ist das etwas, das Sie mit dem dokumentarischen Kino verbindet?

Carrère: Es gibt sicher eine Verwandtschaft. Ich glaube aber nicht, dass wir jemals neutrale Zeugen sein können. Es gibt Dokumentarfilmer, die nach Neutralität streben, wie Frederick Wiseman, den ich bewundere. Bei ihm sieht es so aus, als wäre er nicht da. Dennoch neige ich dazu, anders zu denken: Die Interaktion mit der Realität, die ich behandle, ist schon ein Teil des Themas. Wir können nicht so tun, als wären wir nicht anwesend. (Dominik Kamalzadeh, 23.4.2021)