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Welchen Schutz brauchen die Kinder denn im Augenblick? Wie gehen wir als Gesellschaft mit Ungewissheiten um?

Foto: picturedesk.com / dpa / Christoph Söder

Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie war ich auf der Hochzeit eines befreundeten Pärchens. Das Fest fand in einem Heurigen statt, auf dem Areal stand ein Piratenschiff, durch eine Baumgruppe vom Gastgarten abgetrennt und darum außer Sichtweite der Feiernden. Naturgemäß ein Magnet für alle anwesenden Kinder, nach und nach verschwanden sie in Richtung des Schiffs, die Erwachsenen waren plötzlich unter sich.

Irgendwann trieb mich die Neugier zu sehen, was sich auf dem Kahn abspielte. Alle Buben und Mädchen hingen an Seilen oder kletterten auf dem Ausguck herum. Doch jedes Kind hatte einen Vater oder eine Mutter neben oder hinter sich, die ihr Kind mit Argusaugen überwachten, damit es sich ja nicht wehtat oder von den begehrtesten Punkten verdrängt wurde.

Statt das Unter-sich-Sein zu genießen, hatten sich die Gäste in überfürsorgliche Helikopter-Eltern verwandelt. Diese Mütter und Väter wirkten nicht wie souveräne Erwachsene, die einem Kind auch einmal Freiraum und marginales Risiko zumuten, sie verhielten sich wie große Geschwister, die ihren Fürsorgeauftrag so beflissen und übergenau erfüllten, als würden sie Erwachsene imitieren.

Neil Postman hat bereits 1982 in seinem Buch Das Verschwinden der Kindheit konstatiert, dass die Grenzen zwischen Eltern und Kindern fließend werden, weil der klassische Bildungsbegriff ausgehöhlt sei und weil alle Geheimnisse, Intimitäten und Schamgefühle, die früher zwischen den Generationen geherrscht hatten, verschwunden seien.

Infantilisierte Gesellschaft

Als Ursache dafür hatte Postman vor allem die Wirkung des Fernsehens im Blick. Heute, im Zeitalter von Facebook, Instagram und Pinterest, sind wir einen Schritt weiter. Wir bringen die Kinder nicht mehr dazu, sich auf uns zuzubewegen, wir sind ihnen auf halbem Weg entgegengekommen.

Eine ganze Generation ist derzeit dabei, sich zu infantilisieren, im Freien auf Tretrollern, in den virtuellen Räumen mit Herzchen, Umarmungen und Gefällt-mir-Däumchen. Es sind die Insignien einer konsumistischen Gesellschaft, die sich aufführt wie eine Kinderschar, die nach permanenter Zerstreuung und Bedürfnisbefriedigung verlangt.

Die Ebenenverschmelzung dient zugleich dem allgegenwärtigen Jugendkult. Nichts nutzt dem Ringen ums Anti-Aging mehr, als die Adoleszenz erst gar nicht zu verlassen. Mütter und Töchter sind beste Freundinnen, haben den gleichen Geschmack, was Make-up, Kleidung, Jungs betrifft, und freuen sich kokett, wenn man sie für Schwestern hält. Väter und Söhne sind dicke Kumpel, besuchen gemeinsam Konzerte und schauen dieselben Serien.

Dieses Nivellieren des Generationenabstands hat nicht zuletzt in der Corona-Krise befremdliche Blüten gezeitigt. Die Erwachsenen verhalten sich nicht wie verantwortungsvolle Eltern, die sich schützend vor ihre Kinder stellen, sondern wie verängstigte ältere Geschwister, die bei einem Unwetter auf hoher See im selben Boot mit den Kleinen sitzen.

Welchen Schutz brauchen die Kinder denn im Augenblick? Derzeit wird in den Medien ja permanent auf die Folgen der englischen Variante B.1.1.7 hingewiesen, nie ohne die Warnung, dass die Infizierten und Patienten immer jünger würden.

Angemessenheit

Bei all diesen Hiobsbotschaften dürfen wir uns nicht den Blick für die reale Gefährdungslage trüben lassen. Christian Drosten, Chefvirologe der Berliner Charité, hat Mitte März in einem NDR-Podcast mehrere Studien über die neue britische Variante ausgewertet.

Ergebnis: Die Mutante ist offenbar ansteckender, sie führt zu mehr Hospitalisierungen und Todesfällen. Doch was die Gefährdung der jungen Menschen betrifft, zieht Drosten eine eindeutige Bilanz: "In den jüngeren Altersabschnitten in der Bevölkerung sind das immer noch sehr niedrige Werte. Ganz am Anfang, vor Weihnachten, sahen die Daten, die damals vorläufig zusammenkamen, so aus, als gäbe es eine gewisse Überbetonung bei den Jüngeren."

Aber das habe sich nicht erhärtet. Die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche ernsthaft an Covid-19 erkranken, ist also nach wie vor verschwindend gering.

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Was ist passiert? Laut einer Studie der Uni Wien ist die größte Sorge der Kinder und Jugendlichen, dass sie ihre Freunde und Familienmitglieder anstecken und diese schwer erkranken.
Foto: Getty Images / Milos Stankovic

Eine andere Frage ist, inwieweit sie zum Infektionsgeschehen beitragen. Und da ist die Studienlage uneindeutig und verworren. Um nur zwei konträre Befunde aus Deutschland zu nennen: Christian Drosten hält laut einer eigenen Studie Kinder für genauso ansteckend wie Erwachsene. Folke Brinkmann hingegen, Leiterin der Pädiatrischen Pneumologie an der Uni-Klinik Bochum, ist an zwei Studien beteiligt und kommt zu dem Schluss, dass Kinder bis zum Jugendalter deutlich weniger ansteckend seien.

Wie gehen wir nun mit dieser Ungewissheit um? Ist es angemessen, im Dienste von Worst-Case-Strategien den enormen Schaden in Kauf zu nehmen, den wir derzeit bei Kindern anrichten? Ist es das Kindeswohl nicht wert, im Zweifelsfall ein überschaubares Risiko einzugehen?

Kinder als Risikofaktoren

In der Praxis tun wir das genaue Gegenteil. Im Oktober des Vorjahres wurden an 243 österreichischen Schulen über 10.000 Schüler und Lehrer auf Corona getestet. Das Ergebnis: 40 positive Fälle. Die Konsequenz: Schulschließungen. Kinder werden offenbar nur noch als potenzielle Risikofaktoren betrachtet.

Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn prophezeite zu Beginn der Pandemie: "Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich einander viel verzeihen müssen."

Ich hätte da schon mal einen Vorschlag. In einem Strategiepapier der deutschen Bundesregierung vom April 2020 wurde empfohlen, zur Bekämpfung der Pandemie in der Kommunikation den Worst Case zu verdeutlichen. Dazu gehöre auch "das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann", nämlich: "Wenn Kinder ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie zum Beispiel vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen."

Der Faktor Angst

Derartige Anleitungen, wie man Kinder mit traumatisierenden Angstszenarien maßregelt, sind zwar in Österreich noch nicht aufgetaucht. Aber auch hier hat ein Bundeskanzler von Anfang an dezidiert auf den Faktor Angst gesetzt und vor 100.000 Toten gewarnt.

Das hat Früchte getragen, vor allem bei Kindern. Laut einer Studie des Arbeitsbereichs für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters der Uni Wien ist die größte Sorge von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie, dass ihre Freunde und Familien schwer erkranken und dass sie selbst jemanden anstecken könnten. Das Bemerkenswerte daran: Die Sorge der Jugendlichen, jemanden anzustecken, sei deutlich größer als die der Eltern, berichtet die Psychologin Rachel Lea van Eickels im ORF-Interview.

Die Saat ist also aufgegangen, die Folgen sind noch gar nicht abzusehen. Die vielbeschworene Triage ist bisher nicht wie prophezeit auf den Intensivstationen eingetreten, sondern auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Wiener AKH.

Aus Kapazitätsgründen abgewiesen

Der Andrang von jungen Patienten mit Depressionen, Essstörungen und Suizidgedanken war im Jänner so groß, dass einige schwere Fälle bereits aus Kapazitätsgründen abgewiesen werden mussten. Betroffen seien auch Kinder und Jugendliche ohne Vorbelastungen und aus intakten Familien, meint Abteilungsleiter Paul Plener gegenüber dem ORF. Neu sei ein deutlicher Anstieg der depressiven Symptomatik unter den Acht- bis Zwölfjährigen. Als Gründe dafür nennt Plener vor allem die Schulschließungen und soziale Isolation. Er fordert daher eine rasche Öffnung der Schulen.

Womöglich hat die derzeitige Häufung von Infektionen unter Kindern ja ihre Ursache gerade darin, dass die psychische Dauerbelastung bereits ihr Immunsystem geschwächt hat.

In Deutschland wird indessen die Strategie der größtmöglichen Verängstigung von Kindern mit sprichwörtlicher Gründlichkeit angegangen. Die Direktion einer Schule in Ostfriesland hat in einem Rundschreiben bereits die mangelnde Maskendisziplin in Schulbussen beklagt und zur Meldung der Delikte aufgerufen: "Schülerinnen und Schüler, die keine Maske tragen und denen man anmerkt, dass es sich nicht um ein momentanes Versehen handelt, werden von anderen Busschülern noch am selben Tag der Schulleitung gemeldet."

In dem Schreiben werden noch drei Mailadressen angegeben, jeweils eine für "Täter der Sekundarstufe II", "Täter der S I" und "Täter der Primarstufe". Schulkinder als Täter, freigegeben zur Denunziation.

Verlorene Instinkte

Was ist da passiert? Wo sind all die Helikopter-Eltern, die sonst ihre Kinder vor jedem Wehwechen bewahren? Warum steht niemand auf gegen die Praxis, Kindern gezielt Angst zu machen und sie in die Isolation zu treiben? Haben wir unseren natürlichen Instinkt verloren, der die Menschheit bislang dazu befähigt hat, bei Gefahr vor ihre Kinder zu treten, nötigenfalls unter Einsatz des eigenen Lebens?

Um das Phänomen zur Gänze zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurücktreten. Auch wenn die Vorstellung schwerfällt: Es gab einmal eine Zeit vor Corona. Was waren zuletzt die großen Themen, die jetzt wie weggeblasen wirken? Die Weigerung der Regierung etwa, schutzlose Kinder aus griechischen Lagern aufzunehmen. Und dann war da noch der Green Deal.

Zur Bewältigung der Klimakrise waren ähnlich gigantische Summen im Gespräch wie jetzt zur Bewältigung der Corona-Folgen. Beide Krisen, Klimaerwärmung und Corona, haben eine globale Dimension. Es ist schon ein sonderbarer Zusammenfall, dass die Folgen des Lockdowns aus einem Forderungskatalog von Klimaaktivisten stammen könnten: Konsumverzicht, Reduktion der Industrieproduktion, Einstellung des Flugverkehrs.

Gewollte Panik

Beim Klimagipfel in Katowice von 2018 redete Greta Thunberg den Politikern ins Gewissen und sprach die denkwürdigen Worte: "Ihr seid nicht erwachsen genug, um die Wahrheit zu sagen." Was für ein Schauspiel! Ein 15-jähriges Mädchen wirft den Mächtigen der Welt vor, eine Mentalität von Halbwüchsigen zu haben und darum unfähig zu sein, das Nötige zu tun.

Es gibt noch einen anderen denkwürdigen Satz von Greta Thunberg, der um den Planeten gegangen ist: "I wan’t you to panic!" Er wurde zur Parole für Millionen von Schulkindern in der Fridays-for-Future-Bewegung. "Ich will, dass ihr Panik kriegt!", könnte genauso gut der Schlachtruf der derzeit Regierenden sein, um die Menschen zur bedingungslosen Befolgung der Corona-Maßnahmen zu bringen. Kanzler Kurz hat offenbar von Greta Thunberg gelernt.

Es gibt allerdings bei allen auffälligen Parallelen einen entscheidenden Unterschied: In der Frage der Schuldverteilung findet eine Umkehrung statt. Beim Klimawandel sind die Erwachsenen Nutznießer und Täter, sie frönen bedenkenlos ihren Bedürfnissen und hinterlassen ihren Kindern einen beschädigten Planeten.

In der Corona-Krise sind hingegen die Kinder Begünstigte und Täter, sie sind aufgrund ihrer Natur privilegiert und vom Virus kaum bedroht, aber als potenzielle Spreader gefährden sie Leben und Gesundheit von Lehrern und Eltern. Darum ist es doch wohl mehr als berechtigt, ihnen Panik einzujagen. Eine perfide Konstruktion ausgleichender Gerechtigkeit.

Falsches Konstrukt

Doch es gibt keine richtige Schuldverteilung im falschen Konstrukt. Denn in Wahrheit gehören die meisten Eltern ja auch nicht zu den wirklich Corona-Gefährdeten. Sonst peinlich darauf bedacht, eher der Generation ihrer Kinder anzugehören, fühlen sich die Dreißig- und Vierzigjährigen plötzlich so vom Virus bedroht, wie es eigentlich nur alte Menschen sind.

Diese Eltern hätten jede Berechtigung, ihre Kinder mit den Worten zu beruhigen: "Hab keine Angst, mein Kind, du bist überhaupt nicht gefährdet. Und für uns, deine Eltern, ist es auch nicht ganz so dramatisch. Wir müssen allerdings sehr gut aufpassen, wenn wir Oma und Opa besuchen!"

Und die Großeltern, wie sehen sie wohl das Ganze? Das können wir nicht wissen, denn wir haben sie nie gefragt. Die Alten in ihren Wohnungen und Pflegeheimen wurden von Anfang an nur als entmündigte Schutzmasse behandelt, die von allen anderen abgesondert werden muss.

Maxime der Großeltern

Welches Risiko sie selbst zu tragen bereit wären, um an ihrem Lebensabend noch so viel Zeit wie möglich mit ihren Kindern und Enkelkindern zu verbringen, hat niemanden interessiert. Nicht wenige Menschen sind gestorben, ohne ihre Angehörigen noch einmal sehen zu dürfen.

Ich bezweifle, dass die Großelterngeneration den ungeheuren seelischen Schaden, den wir derzeit in einer ganzen Generation von Kindern anrichten, bedenkenlos in Kauf nehmen, um für sich selbst den größtmöglichen Schutz zu erhalten. Denn die Angehörigen dieser Generation sind nicht von dem Adoleszenzwahn ihrer eigenen Söhne und Töchter befallen, ihnen wäre es absurd und albern erschienen, sich wie die eigenen Kinder zu kleiden.

Bei ihnen darf man noch einen natürlichen Schutzinstinkt voraussetzen. In ihrem Leben galt noch die Maxime, dass es den Kindern einmal besser gehen sollte als ihnen selbst. Heute scheint eher zu gelten: Warum soll es ihnen besser gehen als uns? (Dietmar Krug, 24.4.2021)