"Jeden Tag, an dem der Vater mit der Corona-Erkrankung im Spital gelegen ist, bin ich im Leechwald gestanden."

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Fast jeden Tag, an dem Walter Verhovsek mit einer Corona-Erkrankung im Spital gelegen ist, ist sie im Leechwald gestanden, erzählt Doris Verhovsek. Dort, beim Hilmteich vorbei, mit dem Blick auf die Station des Landeskrankenhauses Graz, auf der er war.

Geografisch näher kam die Tochter dem Vater in dieser Woche nicht, nah hat sie sich ihm aber trotzdem gefühlt. "Das war meine Form des Besuchens – auf Distanz", sagt sie. Und: "Vielleicht war es darum für mich auch etwas einfacher als für meine Stiefmutter, sie hat wirklich sehr stark unter dem Besuchsverbot gelitten."

Im März 2020 geht Österreich in den ersten harten Lockdown – weil sich das Coronavirus erstmals rasant ausbreitet, wird das öffentliche Leben auf ein Minimum heruntergefahren. Die Spitäler werden zu Hochsicherheitszonen erklärt.

Heirat der Volksschulliebe

Walter Verhovsek ist zu diesem Zeitpunkt gerade 82 Jahre alt. Geboren in Feldbach im Jänner 1938 kurz vor dem "Anschluss" Österreichs an Deutschland als Kind von Arbeitern, lernt er in der Volksschule seine erste Liebe kennen. "Mein Vater wollte dann unbedingt ins Gymnasium nach Admont und Matura machen, da haben sie sich sozusagen auseinandergelebt", sagt die Tochter.

Die Unterschrift der Eltern, die er für den Gymnasiumsbesuch benötigt, fälscht er einfach. "Das ist mein Vater: Er hat sich etwas in den Kopf gesetzt und hat das dann auch durchgezogen", sagt Doris Verhovsek. Die kindliche Unterschrift fällt auf, die Eltern decken ihn.

Schon als Jugendlicher geht Walter Verhovsek "ständig reisen", findet darin eine große Leidenschaft, er studiert Rechtswissenschaften, heiratet die Volksschulliebe und bekommt mir ihr Tochter Doris. Als diese acht Jahre alt ist, zieht die Familie von Graz in ein Haus nach Kumberg, eine Gemeinde mit 3840 Einwohnerinnen und Einwohnern nordöstlich von Graz.

In der Landeshauptstadt arbeitet er weiter als Jurist. "Meine Mutter ist sehr jung an Brustkrebs gestorben, mein Vater war erst 60", erzählt Doris Verhovsek. Später heiratet er noch einmal. "Er hat zwei sehr glückliche Ehen geführt, das hat er mir am Schluss gesagt", erzählt die Tochter.

Feier zum 82. Geburtstag

Rund 10.000 Menschen haben seit Beginn der Pandemie in Österreich ihr Leben an das Coronavirus verloren. Walter Verhovsek ist einer von ihnen. "Mein Vater war der großzügigste Mensch, den ich kenne. Und er hatte ein lautes Organ: Wenn er irgendwo aufgetaucht ist, hat man sofort sein Lachen gehört."

Gegen das Coronavirus habe er "keine Chance" gehabt. Nicht nur das Alter, auch die Vorerkrankungen lassen der Familie wenig Hoffnung. Walter Verhovsek leidet an einer Niereninsuffizienz, an Diabetes und hat Herzprobleme. "Vielleicht hätte er das alles sogar noch überstanden", sagt Doris Verhovsek. Die erste Dialyse hat er im Jahr 2014. Von da an baut er ab. "Abgesehen von meinem Vater haben das alle gemerkt, nur er hat immer gesagt: Für 80 ist er eigentlich ganz fit."

Ab 2015 kann Walter Verhovsek nicht mehr viel alleine sein. Seine Frau kümmert sich um ihn in dieser Zeit. Trotz der Krankheit jammert der pensionierte Hofrat nicht, arrangiert sich mit den Umständen.

Im Jänner 2020, noch bevor der erste Corona-Fall in Österreich gemeldet wird, fährt er mit seiner Frau und dem Stiefsohn nach Wien, um seinen 82. Geburtstag zu feiern. Im Theater an der Josefstadt sehen sie sich zur Feier des Tages Johann Nestroys Einen Jux will er sich machen an. "Da hätte ich mir nie gedacht, dass er in den nächsten drei Monaten tot sein wird", sagt Doris Verhovsek. Ende Jänner muss ihr Vater ins Spital. Die Sauerstoffsättigung stimmt nicht, eine Lungenentzündung wird diagnostiziert.

Wieder Lungenentzündung

Er ist schwach, hat aber kein Fieber. Dort bleibt er bis Februar, kommt nach Hause, muss wenig später wieder ins Spital. Wieder ist eine Lungenentzündung der Grund. "Im Februar war das mit Corona noch nicht so groß. Es gab zwar Fälle, aber im Spital wurde nicht jeder getestet. Ich glaube auch nicht, dass er da positiv war", erzählt Doris.

Drei bis vier Wochen sei ihr Vater auf der Station gewesen. Dann sagt er ihr am Telefon, er sei unterwegs. "Ob er spazieren ist, hab ich gefragt. Er war bei einem letzten Check, irgendwelche Untersuchungen." Er darf nach Hause. "Das weiß ich noch, das war ein Donnerstag. Das war kurz nach dem Beginn vom Lockdown. Mein Vater kam am 19. März heim."

Die Tochter erledigt die Einkäufe, die Eltern bleiben daheim. "Geht nicht hinaus, hab ich ihnen gesagt. Als Schweinetierärztin weiß man, was Epidemien sind. Das ist unser täglich Brot im Stall."

Positiver Test

Zum Vater traut sie sich nicht, sie telefonieren. "Er hat erzählt, dass er Palatschinken isst und es ihm gut geht. Ich war happy." Am nächsten Tag wird er erneut ins Spital eingeliefert. Zu diesem Zeitpunkt gibt es bereits zwei Aufnahmestationen im Grazer Landeskrankenhaus – wegen der Corona-Symptome durchläuft Walter Verhovsek das Covid-Prozedere. Am Abend liegt der positive Corona-Test vor. "Die Tochter in mir hat gehofft, aber die Tierärztin hat gewusst, dass er das nicht überleben wird."

Besuche sind nicht erlaubt. Doris Verhovsek packt einen Sack und gibt ihn beim Portier ab – mit einem Handy, Bildern von der Familie und einem Buch über den Geburtsort. Am Montagmorgen telefonieren die beiden, er ist gut drauf, "da hab ich gedacht, er schafft es ja vielleicht doch noch".

Am Montagnachmittag sprechen sie das letzte Mal miteinander. Am Donnerstag stirbt ihr Vater. Wo er sich mit dem Virus infiziert hat, weiß man bis heute nicht – die Vermutung, dass es bei seinem zweiten Spitalsaufenthalt war, liegt nahe. Schließlich habe er keinen Kontakt danach gehabt.

Kleine Runde

Das Begräbnis ist klein: Wegen der aktuellen Corona-Schutzmaßnahmen dürfen nur der Pfarrer und fünf Gäste kommen. Alles daran ist anders als normal – begonnen bei der Planung: "Sie schicken einem das alles per E-Mail – da sucht man online einen Sarg aus oder per Telefon. Das Sackerl mit dem Gewand für den Verstorbenen musste man bei der Bestattung vor die Türe stellen."

Am Friedhof gibt es in der offenen Aufbahrungshalle eine kurze Verabschiedung. Die engste Familie ist dort. Es spielt My Way von Frank Sinatra, das hat die Tochter ausgesucht: Bei dem letzten gemeinsamen Urlaub 2019 in Lignano spielte ein Saxofonist das Lied im Hotel.

"Mein Vater hat sich auch nie was geniert – er hat mitten im Speisesaal zu singen begonnen. Da hat man nichts von Schwäche und Demenz gehört. I did it my way – das war mein Papa." (Oona Kroisleitner, 24.4.2021)