Ferdinand Lacina macht Kaffee, nimmt im roten Fauteuil Platz, im Rücken eine Riesenbücherwand. Bücher und Zeitschriften auf dem Beistelltisch. Aufgeregt sah man den sozialdemokratischen Ex-Politiker nie, aber die aktuellen Entwicklungen in Österreichs Politik missfallen ihm, eindeutig.

STANDARD: Sie waren ab 1980 Kabinettschef von Bruno Kreisky. Haben Sie ihm je geschrieben: "Ich liebe meinen Kanzler"?

Lacina: Nein. Ich hab ihn sehr geschätzt, aber das wäre mir nicht eingefallen. Das ist absurd.

Ex-SPÖ-Politiker und Ex-Finanzminister Ferdinand Lacina ortet bei der türkisen "Familie" Anstandsverlust und vermisst, nicht nur bei der ÖVP, politische Inhalte.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Das schrieb Thomas Schmid an Sebastian Kurz, es ging um seinen Öbag-Chefposten. In der Diskussion über Postenschacher unter Türkis-Blau sagen viele, das sei unter SPÖ und ÖVP auch so gewesen. In der Nationalbank etwa war vom Chef bis zum Portier alles rot-schwarz zugeteilt. Gibt's einen Unterschied?

Lacina: Ja. Der Proporz entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, als es zu einer Befriedung zwischen den ehemaligen Bürgerkriegsgegnern von 1934 kam. Nur das Misstrauen hat Rot und Schwarz damals verbunden. Kreisky holte sich dann, mit der Stärke einer absoluten Mehrheit hinter sich, ganz bewusst Leute aus dem Bürgertum in die Regierung und in Spitzenpositionen, in die Verstaatlichte brachte er bürgerliche Experten. Er hatte in seinem Kabinett nie nur Gesinnungsgenossen, sondern immer auch Leute, die zwar sehr loyal waren, aber keine SPÖ-Mitglieder. Damit wollte er Breite zeigen und deren anderen Erfahrungshintergrund und Denkweise nützen. Hat man in seiner nahen Umgebung kritische Geister und anders sozialisierte Leute, führt das zu Stärke. Ich hab das auch so gemacht.

STANDARD: Geht's da auch um Reflexion mit dem politischen Gegner?

Lacina: Nein, um Expertise. Die Reflexion funktioniert auch mit dem Staatssekretär des jeweiligen Koalitionspartners, bei mir war das Johannes Ditz. Er hat übrigens über mir gewohnt, die Leute haben immer geglaubt, wir besuchen uns jeden Tag, was wir aber nicht taten. Wir haben uns eh im Büro den ganzen Tag gesehen. Wir hatten eine aufrichtige Beziehung: Wenn ich abtesten wollte, ob der Koalitionspartner ein Vorhaben akzeptieren würde, bekam ich von Ditz Signale, auf die ich mich verlassen konnte. Und umgekehrt.

STANDARD: War der Proporz also ein Versöhnungsinstrument?

Lacina: Nein, es ging es zunächst um Kontrolle, das Misstrauen war ja ungeheuer groß. Der Minister bekam einen Staatssekretär von der anderen Partei, und in den Unternehmen gab es einen Zweiervorstand: ein Roter, ein Schwarzer. Die Entscheidungen über Posten fielen lange im Parteipräsidium, das sicher nicht der richtige Ort dafür ist.

Bruno Kreisky am 8. Juli 1987 mit (von links) dem Präsidenten der Sozialistischen Internationale, Willy Brandt, Ägyptens Staatspräsident Anwar al-Sadat und dem israelischen Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationale, Shimon Peres.
Foto: Bruno-Kreisky-Archiv

STANDARD: Schmid zum Öbag-Chef zu machen hat eher nicht das ÖVP-Präsidium entschieden.

Lacina: Nein, jetzt werden solche Entscheidungen von einem ganz kleinen Klüngel besprochen, der wie Pech und Schwefel zusammenhält.

STANDARD: "Du bist Familie", schrieb Gernot Blümel an Schmid. Schlimm?

Lacina: Die Gefährlichkeit beginnt dort, wo es in Richtung Orbán geht. Die Ausschließlichkeit ist gefährlich, diese ganz enge "Familie": Es gibt Freunde, die einen lieben, alle anderen sind Feinde. Die neue ÖVP hat ja 2017 hinter dem Rücken der eigenen Parteigremien und des Parteichefs ganz bewusst Geld fürs Projekt Ballhausplatz eingesammelt. Da hat man sich die ÖVP unter den Nagel gerissen. Mein Gefühl ist, dass das nicht bei der ÖVP haltmacht, sondern dass die Republik als Privateigentum betrachtet wird.

STANDARD: Weil Blümel die Staatsholding Öbag in einem Chat "Schmid AG" nannte?

Lacina: Zum Beispiel, aber ich leite das auch daraus ab, wie sich Regierende dem Parlament gegenüber verhalten. Jetzt reden alle von den Turnschuhen des Gesundheitsministers, aber Kanzleramtsminister Blümel stand ohne Schuhe in seinen türkisen Socken am Rednerpult des Nationalrats! Auch dass Kurz nach dem Misstrauensvotum 2019 nicht als Abgeordneter ins Parlament ging, beweist absolute Respektlosigkeit, ebenso wie sein und Blümels Auftritt im U-Ausschuss. Zunächst erinnerte sich Blümel kaum, und dann entschlug er sich oft: Das ist sicher sein Recht, aber er ist nicht irgendwer, sondern ein Minister. Und ein Minister steht nicht auf gleicher Stufe mit den Abgeordneten, er ist den vom Volk gewählten Vertretern Auskünfte schuldig, darf sie nicht anlügen und kann dem Abgeordneten im U-Ausschuss nicht sagen: "Ich lass mir das nicht gefallen." Er muss sich das gefallen lassen. Regierungsmitglieder dürfen im Parlament auch nicht polemisieren, was früher mit dem Zwischenruf "Keine Polemik von der Regierungsbank!" eingefordert wurde. Scheint vergessen zu sein.

Der damalige Kanzleramts- und Kulturminister Gernot Blümel im Juni 2019, salopp und Fuß-leger im Hohen Haus.
Foto: SPÖ/Twitter

STANDARD: Vielleicht wurde die Regierung nicht eingeschult vom Nationalratspräsidenten?

Lacina: Na ja, Wolfgang Sobotka ist zwar kein Pate, aber er gehört als Älterer zur Familie. Ich fürchte halt, dass es nach dem Projekt Ballhausplatz jetzt das Projekt Österreich gibt. Das beginnt bei den Ausgaben für Medien- und Pressepolitik, die auch in die Richtung "Ich muss von allen geliebt werden" zielen.

STANDARD: Kreisky hat auch auf Journalisten und Berichterstattung Einfluss genommen.

Lacina: Das macht jeder Politiker, aber es ist ein Unterschied, ob man das relativ offen tut, um seine Position darzulegen, oder ob unliebsamen Journalisten gedroht wird, dass sie ihren Job verlieren werden.

STANDARD: Noch zu den Chats: Heute schreibt man halt Messages, haben Politiker früher nicht auch recht locker geredet unter vier Augen?

Lacina: Nein, so hat man nicht einmal geredet. Da ist der Anstand verloren gegangen, das ist pure Kulturlosigkeit. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass es nur um Macht geht, die Inhalte sind verloren gegangen. Und das gilt nicht nur für die ÖVP. Wobei ja gilt: Wer schnell hinaufkommt, fällt schnell hinunter. Ich kann mir übrigens dieses Gespräch zwischen Finanzministerium-Generalsekretär Schmid und Bundeskanzler Kurz über den Generalsekretär der Österreichischen Bischofskonferenz, dem Schmid laut Kurz "Gas geben" sollte, einfach nicht vorstellen.

STANDARD: Hätte Kreisky das nicht getan, wenn es um Kardinal Franz König gegangen wäre?

Lacina: Schwer vorstellbar, obwohl sie große Auseinandersetzungen hatten, ich erinnere nur an die Fristenlösung. Wobei beide versucht haben, die Gegnerschaft zwischen Sozialdemokratie und katholischer Kirche aus der Welt zu schaffen. Das war auch einer der Gründe, warum Kreisky außerordentlich skeptisch war gegenüber der Einführung der Fristenlösung, also der Abschaffung der Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs. Das haben in Wirklichkeit vor allem die Frauen in der Partei durchgesetzt. Kreisky hatte die Befürchtung, das werde zu einer erneuten Entfremdung zwischen SPÖ und Kirche führen.

Die legendäre Frauenministerin der SPÖ, Johanna Dohnal.
Foto: Newald

STANDARD: Wieder zurück in die Gegenwart: Wie sehen Sie denn die Wirtschaftspolitik der Regierung zur Pandemiebekämpfung?

Lacina: Man muss wirtschaftspolitische Maßnahmen finden, die effizient genug sind, eine der schwersten Krisen, die wir je hatten, zu überwinden. Da geht es um Einkommen, Arbeitslosigkeit, die nach Ende der Kurzarbeit steigen wird, Folgen der Schulschließungen, Mehrfachbelastung der Frauen. Und wir brauchen wieder eine Industriepolitik, eine Diskussion, ob der Staat bestimmte Sparten unterstützen soll: Über vertikale Industriepolitik wird zwar in Deutschland und Frankreich diskutiert, aber bis auf Wifo oder Arbeiterkammer nicht bei uns. Österreich ist ein großer Autozulieferer – und genau deswegen müssen wir in diesem Bereich, bei Elektromobilität und Wasserstoff, dabei sein, denn den Verbrennungsmotor wird's nicht ewig geben.

STANDARD: MAN will das Lkw-Werk in Steyr schließen. Wäre eine staatliche Beteiligung sinnvoll?

Lacina: Es wäre schon gut, wenn da Politik betrieben würde, es gab nicht einmal einen Termin des Betriebsrats beim Bundeskanzler. Wenn die öffentliche Hand will, dass Siegfried Wolf das übernimmt, und die Belegschaft gegen sein Konzept ist, müssen sich halt vorher alle zusammensetzen und einen Kompromiss suchen. Der Staat allein könnte als Eigentümer des MAN-Werks nichts ausrichten, dort braucht es einen Partner für Service und Vertrieb. Der Staat könnte nur helfen, etwa durch eine Beteiligung von 20 Prozent, wie das Pamela Rendi-Wagner vorgeschlagen hat.

STANDARD: Apropos: Es heißt, Kurz könnte einen fliegenden Koalitionswechsel zur SPÖ vollziehen. Würden Sie das SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner empfehlen?

Lacina: Nein.

STANDARD: Finanzminister Blümel verfolgt bei der Pandemiebekämpfung das Motto "Koste es, was es wolle". Ist das der richtige Ansatz?

Lacina: Ich verstehe nicht, dass man das auf der einen Seite sagt und auf der anderen Seite stolz drauf ist, in der EU zu den "frugalen Vier" zu gehören, also den besonders Sparsamen. Ich hätte es für das Beste gehalten, den Leuten Geld in die Hand zu geben und es danach zu versteuern. Das wäre schnell gegangen, hätte rasch Liquidität gebracht und die Kaufkraft angekurbelt. Die nun angekündigte Erhöhung der Investitionsprämie halte ich für gut, aber man sollte sie großzügiger ausstatten: Bei 25 Prozent können Unternehmen wirklich große Investitionen angehen. Also nicht "Koste es, was es wolle", sondern: Es darf auch viel kosten, aber das Geld muss vernünftig eingesetzt werden. Denn wir werden bald viele insolvente Unternehmen haben, viele Arbeitslose und viele, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können und delogiert werden. Und dann wird es niemanden mehr geben, der sagt: "Koste es, was es wolle." (Renate Graber, 24.4.2021)