Julia Kloiber versteht Digitalisierung als umfassendes Gesellschaftsprojekt.

Foto: Oliver Ajkovic

Die Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, wie abhängig wir alle von digitalen Technologien sind, aber auch, wie viele Menschen ausgeschlossen und abgehängt sind, keinen Zugang haben, keine Geräte, kein Know-how. Was ist zu tun, damit Digitalisierung allen nützt?

STANDARD: Wenn wir an die Zukunft nach Corona, wann und was immer das dann ist, denken, wo müssen wir unsere "digitalen Abwehrkräfte" besonders stärken?

Kloiber: Wir müssen Digitalisierung als Gesellschaftsprojekt verstehen. Im Moment ist das noch sehr stark ein Elitenprojekt. Es gibt Eliten, die sich auskennen und gestalten, und es gibt einen großen Bevölkerungsteil, der immer noch ein Stück weit außen vor ist, obwohl Digitalisierung alle Bereiche durchdringt. Wie sehr Digitalisierung unseren Alltag durchdringt, haben wir in der Pandemie gemerkt, siehe Homeoffice oder Homeschooling. Es fehlt teilweise an Expertise und den richtigen Tools, es ist schwierig zu überblicken, bei welchen Anwendungen die Privatsphäre und Daten geschützt werden etc.

In den letzten Jahren haben wir auch sehr stark gesehen, wie Digitalisierung die gesellschaftliche Spaltung weiter vorantreiben kann, wie sich Gräben auftun zwischen denen, die Zugang zu Wissen haben, und jenen, denen die Ressourcen, ökonomische, technologische, aber auch Zeit, fehlen. Eine Aufgabe wird also sein, zu schauen, wie man Menschen, deren Expertise und Perspektiven in die Gestaltung dieses Gesellschaftsprojekts Digitalisierung einbeziehen kann und wie man es verhindert, dass Menschen weiter abgehängt werden. Digitale Infrastruktur ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

STANDARD: Sie sind eine der Mitinitiatorinnen der Plattform digitalezivilgesellschaft.org, mit der Sie sich für "unabhängige digitale Infrastruktur und freien Zugang zu Wissen einsetzen. Beides ist in Zeiten von Krisen wichtiger denn je." Das meint ja mehr als nur das 5G-Mobilfunknetz ...

Kloiber: Das ist natürlich das Erste, woran man denkt: den Ausbau der Internet-Infrastruktur – ein Thema, das eher unsexy wirkt, wo Politik zwar verstanden hat, okay, da muss man etwas tun, aber damit lassen sich aktuell weder Wahlen noch viele Lorbeeren gewinnen. Dem gegenüber stehen spannende Themen wie die künstliche Intelligenz. Man darf die trockenen Infrastrukturthemen aber nicht unterschätzen, eine schnelle Internetverbindung, auch in ländlichen Regionen, ist essenziell für Teilhabe und für wirtschaftlichen Erfolg.

Neben den physischen Infrastrukturen, die uns mit dem Internet verbinden, gibt es aber noch weitere Ebenen, zum Beispiel die Plattformen, über die wir kommunizieren und die uns miteinander verbinden. Wenn wir diese Plattformen in den Blick nehmen, dann wird schnell klar, dass diese sehr stark dominiert sind von wirtschaftlichen Interessen großer Unternehmen, deren Businessmodelle darauf beruhen, Daten abzugreifen. Den Tech-Unternehmen geht es primär darum, Gewinne für sich und die Aktionäre einzufahren. Daneben gibt es relativ wenig Plattformen und Tools, deren primärer Fokus darauf liegt, was gut für unsere Gesellschaft, Demokratie und Umwelt ist: hohe Datenschutzstandards, Energieeffizienz und Orientierung an den Bedürfnissen der Nutzer und Nutzerinnen.

Es geht darum, zu überlegen, was sind denn digitale Werkzeuge oder Plattformen, die wir als Gesellschaft brauchen, um miteinander in Austausch zu treten. Die digitalen Räume, die wir gerade bevölkern, sind Räume, die von großen Unternehmen gestaltet wurden, denen es darum geht, noch mehr Aufmerksamkeit, teilweise auch Polarisierung herzustellen, weil sich darüber noch mehr Klicks generieren lassen.

STANDARD: Was kann man gegen diese sprichwörtliche Übermacht der angesprochenen Tech-Konzerne tun?

Kloiber: Wir müssen überlegen: Welche digitalen Räume brauchen wir, um Hass oder Polarisierung in solchen Extremen, wie wir sie gerade erleben, gar nicht erst entstehen zu lassen. Wir müssen Gegenentwürfe zu den aktuellen Modellen wagen. Gegenentwürfe, die nach den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger gestaltet sind. Dazu müssen wir die Entwicklung von Technologie fördern, die Werte wie Nachhaltigkeit, Kollaboration, Gerechtigkeit und Teilhabe ins Zentrum stellt.

Das heißt zum Beispiel: Wir brauchen einen Fokus auf Open Source, auf neue Technologien, für die diese Werte zentral sind. Gleichzeitig ist es häufig so, dass die Technologie, die jetzt entwickelt wird, für die breite Masse gedacht ist. Es ist wichtig zu fragen: Wer bleibt außen vor? Wie barrierefrei ist diese App oder jener Browser? Wie zugänglich sind sie für ältere Menschen, die nicht mit diesen Technologien aufgewachsen sind. Es wäre wichtig, da mehr Verständnis zu entwickeln, aber auch von staatlicher Seite die Entwicklung solcher Anwendungen zu fördern und Barrierefreiheit-Standards von Unternehmen einzufordern.

STANDARD: Apropos Staat: Was würden Sie denn der Politik ins Pflichtenheft zur Digitalisierung schreiben?

Kloiber: Ein Punkt ist auf jeden Fall Regulierung: Es wird zwar überall reguliert, aber relativ langsam. Wenn man sich die Geschwindigkeit von technologischen Entwicklungen anschaut, dann hinken Policy-Making und Regulierung immer hinterher. Das liegt in Stück weit in der Natur der Sache, gleichzeitig müsste die Politik aber auch Räume schaffen, in denen Visionen entwickelt werden können, wo experimentiert werden kann, welche digitalen Werkzeuge die Gesellschaft in Zukunft braucht, um dann auch größere Fragen anzugehen wie zum Beispiel den Klimawandel oder Armutsbekämpfung.

Oft ist das Vorgehen sehr stark reaktiv. Man bekommt von Technologieunternehmen etwas vorgesetzt und versucht dann, mithilfe von Regulierung den größten Schaden abzuwenden. Wichtig wäre aber auch, einen Gestaltungsraum zu eröffnen, wo sich Menschen einbringen können. Dabei ist ein großes Thema politische Partizipation. Häufig sind diese Bürgerbeteiligungsmaßnahmen aber leider ein Feigenblatt, man fragt einmal alle ab, und am Ende entscheidet man dann doch wieder so, wie es einem von internen Experten herangetragen wird. Es muss für Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein, wie Entscheidungen zustande kommen.

STANDARD: Wo sehen Sie in Österreich speziellen Handlungsbedarf?

Kloiber: Einer der Schlüssel zu besserer Beteiligung ist Transparenz. Was in Österreich wirklich essenziell ist, um Beteiligung und Vertrauen herzustellen, sind offene Verwaltungsdaten und politische Transparenz. Das geplante Informationsfreiheitsgesetz kommt ja hoffentlich bald.

Als Barack Obama das Präsidentenamt in den USA angetreten hat, war eine der ersten wichtigen Initiativen eine Transparenzinitiative. Diese Grundlage braucht es in Österreich, um darauf aufbauend Bürgerpartizipationsmaßnahmen aufsetzen zu können und um als Staat auch Themen ein bisschen breiter zu verstehen und angehen zu können. Also Digitalisierung nicht als abgeschlossenes Thema zu verstehen, sondern als Werkzeug, mit dem man Themen wie Klimawandel, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit usw. angehen kann. Dabei ist es wichtig, nicht in die Falle zu tappen, alle Probleme mit neuen Technologien lösen zu wollen. Viele Herausforderungen sind struktureller Natur, und neue Technologie kann nur eines von vielen Werkzeugen sein, um ihnen etwas zu entgegnen.

STANDARD: Was verstehen Sie eigentlich genau unter "digitaler Zivilgesellschaft"? Wer gehört da dazu?

Kloiber: Im letzten Jahr habe ich eine Initiative mit dem Titel "Digitale Zivilgesellschaft" mit-initiiert. Mehr als 8o Organisationen haben den offenen Brief gezeichnet. Darunter sind Organisationen wie epicenter.works, die Plattform für Grundrechtspolitik, oder der Chaos Computer Club und der Bundesverband Deutscher Stiftungen, also zivilgesellschaftliche, gemeinnützige, gemeinwohlorientierte Organisationen, die sich mit dem Thema Digitalisierung, deren Auswirkungen, aber auch Chancen für die Gesellschaft auseinandersetzen. Diese Akteure sind sehr wichtig, weil an sie die nicht organisierte Zivilgesellschaft andocken kann, also Bürgerinnen und Bürger, die sich für dieses Thema interessieren.

Zur Digitalisierung hat jeder eine Meinung, weil wir alle, auf die ein oder andere Weise, davon betroffen sind. Organisationen der digitalen Zivilgesellschaft sind zentrale Akteure, die dabei helfen können, diese Meinungen, Bedürfnisse und Bedarfe zu sammeln und sich für Gruppen stark zu machen, die marginalisiert sind oder übersehen werden. Dazu müssen zivilgesellschaftliche Organisationen noch viel stärker in politische Beratungsgremien mit reingeholt werden, weil sie neben der Aufgabe als Watchdog, der auf Missstände aufmerksam macht, auch viele Visionen und neue Perspektiven einbringen kann, die man so nicht erhält, wenn man nur Wissenschaft, Wirtschaft und Vertreter aus den Verbänden in den Beratungsgremien hat.

STANDARD: Der deutsche Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach fordert in seinem neuen Buch "Jeder Mensch" sechs neue Grundrechte in Europa. Darunter zwei digitalisierungsspezifische, nämlich Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung: "Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten." Und Artikel 3 – Künstliche Intelligenz: "Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen." Was halten Sie von dieser Initiative, die u .a. von der ehemaligen österreichischen VfGH-Präsidentin und Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein unterstützt wird?

Kloiber: Ich finde solche Initiativen spannend. Ich finde es interessant, zu überlegen, wo es in der Menschenrechtscharta Lücken gibt, diese dann zu adressieren und ein Update vorzuschlagen. Was ich an den Vorschlägen von "Jeder Mensch" mag, ist, dass sie zum Diskurs anregen. Einem Diskurs, der sich an Utopien, an einer besseren Welt orientiert und sich nicht an dystopischen Szenarien abarbeitet. Solche neuen Rechte sind abstrakt und müssen mit Leben gefüllt werden.

Oft mangelt es uns auch nicht an den rechtlichen Grundlagen, sondern daran, dass diese eingehalten werden. Wir haben viele starke Menschenrechte. Häufig geben sich ja große Unternehmen eigene ethische Richtlinien, das wird dann immer ganz groß aufgezogen. Dabei könnte man sagen: Wenn sie sich an das bestehende Recht halten würden, dann müssten sie sich gar nicht selbst ans Reißbrett setzen und eigene ethische Richtlinien erarbeiten. Das Thema der digitalen Souveränität wird in Europa gerade groß diskutiert, sehr häufig aber mit einem wirtschaftlichen oder sehr nationalstaatlichen Einschlag.

STANDARD: Wie wäre es besser?

Kloiber: Wie von Schirach es vorschlägt, muss man sich auf die digitale Souveränität der Gesellschaft fokussieren, damit Individuen Fähigkeiten und Möglichkeiten haben, sich in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher zu bewegen. Eine Grundlage dafür ist digitale Mündigkeit, ein Grundverständnis davon, wie Technologien funktionieren. Viele Themen sind sehr abstrakt, und man braucht Expertenwissen.

Finnland hat dazu ein interessantes Programm namens "Elements of AI" ins Leben gerufen, wo ein kostenloser Onlinekurs angeboten wurde, der das Ziel hatte, dass ein Prozent der finnischen Gesellschaft Wissen und Expertise über künstliche Intelligenz sammelt. Er ist mittlerweile auch auf Deutsch übersetzt. Bürgerinnen und Bürger, die nichts mit diesem Thema zu tun haben, konnten sich damit so weit einarbeiten, dass sie neben den technischen und wirtschaftlichen Aspekten, auch die die sozialen und ökologischen Chancen verstehen, die damit einhergehen. Am Ende ist digitale Mündigkeit genau wie Transparenz und die Bereitstellung von Informationen die Grundlage, die es braucht, um sich diesen Themen anzunähern und sie mitzugestalten. (Lisa Nimmervoll, 24.4.2021)