Noch nie zuvor hat die Menschheit so viel Fleisch produziert wie heute, sagt Steffelbauer. Vor allem in westlichen Industrienationen erhitzen sich zwischen Vegetariern, Veganern und Fleischfans seit einiger Zeit die Gemüter.

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Einige waren neugierig, andere angewidert bei dem Anblick, der sich ihnen vor dem veganen Markt in London vor knapp zwei Jahren bot: Ein Mann mit Pferdeschwanzfrisur und schwarzem Tanktop beißt dort in ein rohes Eichhörnchen. "Veganism = Malnutrition" ("Veganismus ist Mangelernährung") steht auf seinem Shirt. Kurz zuvor hatte der schwedische Aktivist im Internet erklärt, er wolle Veganer von ihrer "Religion" befreien, die sie in Gefahr bringe.

Diese Protestaktion gegen fleischlose Ernährung ist nicht die einzige, die in der Vergangenheit für Aufmerksamkeit sorgte. Als 2019 in der australischen Stadt Perth zwanzig Veganer vor einer Metzgerei protestierten, standen ihnen plötzlich 300 Fleischfans gegenüber, die die Demonstranten mit Steaks bewarfen. Erst die Polizei konnte die Versammlung auflösen. Aber auch Fleischgegner und -gegnerinnen schrecken nicht vor emotional geladenen und provokativen Aktionen zurück: Vor wenigen Wochen beispielsweise veröffentlichten spanische Tierrechtsaktivisten Bilder von Menschen, die mit Kunstblut beschmiert wie Tierfleisch verpackt wurden. Die Aufschrift: "Carne Humana" (auf Deutsch: "Menschenfleisch").

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Mit Aktionen wie dieser wollen spanische Tierrechtsaktivisten auf die Probleme des Fleischkonsums aufmerksam machen.
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"Die Frage, ob man Fleisch isst oder nicht, ist zu einem ideologischen Machtkampf geworden", sagt der Historiker Ilja Steffelbauer im Gespräch mit dem STANDARD. Während Fleisch für viele nach wie vor ein Alltagsprodukt ist, sehen andere darin den Gipfel der Ausbeutung von Tieren durch den Menschen. Dadurch könne das Thema Fleisch zu gesellschaftlichen Spaltungen führen, schreibt Steffelbauer in seinem kürzlich veröffentlichten Buch "Fleisch". Statt über die Frage zu diskutieren, ob ein Schnitzel noch legitim ist oder nicht, sei es viel wichtiger, das globale Agrarsystem zu überdenken.

STANDARD: Herr Steffelbauer, warum scheint das Thema Fleisch so stark zu polarisieren und zu emotionalisieren?

Steffelbauer: Weil es für viele zu einem Teil ihrer Identität geworden ist. Indem ich sage, dass ich Fleisch esse oder darauf verzichte, drücke ich meine persönliche Einstellung zu einer Reihe von Themen und meinen sozialen Status aus. Und weil Essen etwas Alltägliches ist, begegnet uns das Thema jeden Tag in der Familie, mit Freunden oder im Beruf. Dabei hat die Frage, wer wie viel Fleisch essen darf, schon immer zu gesellschaftlichen Spaltungen geführt.

STANDARD: Inwiefern?

Steffelbauer: Schon damals haben die, die es sich leisten konnten, demonstrativ Fleisch gevöllert oder gefastet. Denn Fleisch war über Jahrtausende und seit der Sesshaftigkeit ein Mangelprodukt und damit Ausdruck von Prestige und Status. Es gab überhaupt meistens zu wenig zu essen. Im europäischen Mittelalter war jedes dritte Jahr ein Hungerjahr. Noch in meiner Elterngeneration war das Schnitzel etwas Besonderes. Da lag immer mehr Erdäpfelsalat, Püree oder Reis als Fleisch auf dem Teller.

STANDARD: Viele würden sagen, dass das Problem heute eher darin besteht, dass zu viel und nicht zu wenig Fleisch gegessen wird.

Steffelbauer: Wir produzieren heute so viel Fleisch wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Trotzdem geht es nach wie vor für einen Großteil der Menschheit nicht darum, ob sie auf Fleisch verzichten wollen, sondern darum, dass sie überhaupt genug zu essen haben. Es gibt immer noch mehr Menschen, die sich unfreiwillig fleischlos oder fleischarm ernähren, als Menschen, die freiwillig auf Fleisch verzichten. Nur in unserer westlichen Überflussgesellschaft ist das Thema Fleischverzicht so präsent geworden.

STANDARD: Sie meinen, freiwilliger Verzicht auf Fleisch ist heute ein Luxusproblem?

Steffelbauer: Ja. Es ist interessant, wer sich dafür entscheidet, auf Fleisch zu verzichten: allen voran westliche, gebildete, urbane Mittelschichtler, Bobo-Bürger, die sich nicht durch mehr Konsum, sondern durch Konsumverzicht von anderen abgrenzen und damit ihren sozialen Status aufbessern wollen. Sie wollen zeigen, dass sie etwas Besseres sind als die leberkas- und schnitzelfressenden Prolos, und sich so moralisch überlegen fühlen.

STANDARD: Warum sollte es ein Problem sein, wenn sich Menschen dafür entscheiden, auf Fleisch zu verzichten? Sollten wir die Entscheidung dieser Menschen nicht eher befürworten, wenn es dadurch den Tieren und dem Klima besser geht?

Steffelbauer: Ich habe nichts gegen Menschen, die sich persönlich – etwa weil sie Fleisch nicht mögen oder aufgrund rationaler Überlegungen – dafür entscheiden, kein Fleisch mehr zu essen. Auch die sachliche Debatte dahinter ist klar: nämlich dass wir als Menschheit insgesamt zu viel Fleisch essen und dass das dem Klima und der Umwelt schadet. Was mich stört, sind jene fanatischen Verfechter des Fleischverzichts, die sich in ihrer Ideologie anmaßen, anderen ihre Sicht der Dinge aufzudrücken. Denn letztlich handelt es sich dabei um eine privilegierte Debatte innerhalb einer privilegierten Schicht unserer Gesellschaft, um eine Minderheit, der klar sein muss, dass sie mit ihren persönlichen Konsumentscheidungen nichts an den globalen Problemen verändern. Diese Ideologie hat das Potenzial, unsere Bevölkerung zu spalten, da sie jede vernünftige Auseinandersetzung mit dem Thema blockiert.

STANDARD: Man könnte aber auch sagen, dass Vegetarierinnen und Veganer andere anregen können, über ihr eigenes Konsumverhalten nachzudenken, den Verzehr von Fleisch nicht als normal zu betrachten.

Steffelbauer: In der Geschichte des Menschen gehörte Fleisch schon immer zur Ernährung dazu. Es hat die Entwicklung unseres Gehirns gefördert. Wenn heutige Verfechter veganer Ernährung sagen, man könne alle nötigen Vitamine, Proteine und Fette durch eine ausgewogene pflanzliche Ernährung ersetzen, stimmt das natürlich. Das Argument beruht aber auf dem riesigen Angebot, das die globalisierte und industrialisierte Landwirtschaft erst möglich gemacht hat: Avocados aus Südamerika, Früchte aus Afrika oder Tomaten und Salat aus Spanien sind bei uns in jedem Monat im Jahr verfügbar. Da fällt es natürlich leicht, sich aus dem Angebot das zu den eigenen Vorstellungen passende Gericht herauszupicken. Wenn man dann sagt, jeder sollte besser auf Fleisch oder Milch verzichten, klingt das wie ein Hohn gegenüber all jenen Menschen, deren Lebensrealität gänzlich anders aussieht und bei denen die Verfügbarkeit von Milch oder Fleisch in einigen Fällen über Leben und Tod entscheiden kann.

STANDARD: Aber auch in anderen Kulturen, wie beispielsweise in Indien, gehört die vegane Ernährung oftmals zum Alltag. Vegane oder vegetarische Ernährung ist nicht nur ein westliches Phänomen.

Steffelbauer: Die Inder essen nicht wenig Fleisch, weil sie bewusst darauf verzichten, sondern weil es sich die meisten schlicht nicht leisten können. Das landwirtschaftliche System in Indien ist sehr verdichtet und muss auf kleiner Fläche hohe Erträge erzielen, um die Bevölkerung ernähren zu können. Deshalb hat über die Geschichte hinweg nie sehr viel Fleisch produziert werden können. Anders als wir im Westen gerne glauben, ist die Sonderstellung der Kuh in dem Land auch kein mystisches Phänomen, sondern beruht zu einem guten Teil auf der Tatsache, dass das Tier einen großen Nutzen für das Agrarsystem im Land hat. Im Übrigen werden in Indien ohne weiteres Ziegen, Schafe und andere Tiere gegessen.

STANDARD: Zumindest in westlichen Gesellschaften haben nur mehr die wenigsten Menschen direkt etwas mit der Fleischproduktion zu tun. Wie hat das unser Verhältnis zu den Tieren verändert?

Steffelbauer: Wir leben heute zwar von Tieren, aber nicht mit ihnen. Dadurch verlernen wir den Umgang mit ihnen, vergessen, was es heißt, wenn wir von ihnen und sie von uns abhängig sind. Gerade wir urbanen Mittelschichtler, die am wenigsten Kontakt mit Tieren haben, romantisieren und vermenschlichen sie. In der Psychologie nennt man das auch das Bambi-Syndrom. Wir ziehen Pudeln komische Kleidung an, die sie eigentlich nicht brauchen, stecken Hasen als Haustiere in kleine Käfige, obwohl sie eigentlich frei in der Natur laufen sollten, romantisieren die Arbeit der Landwirte und empfinden Mitgefühl mit Tieren mit großen Augen und runden Gesichtszügen, während uns die Haie, denen aufgrund der Jagd auf ihre Flossen die Ausrottung droht, relativ egal sind. Die größten angeblichen Tierversteher sind oft jene Menschen, die wahrscheinlich in ihrem Leben noch nie mit einem Schwein zu tun hatten.

STANDARD: Wie sollte unser Verhältnis zu Nutztieren denn aussehen?

Steffelbauer: Die Landwirtschaft ist ein Beruf, der natürlich mit Verantwortung verbunden ist. Wir sollten den Tieren wertschätzend und rational gegenübertreten. Wenn sie in unserem Agrarsystem eine Rolle spielen sollen, ist aber auch klar, dass wir sie irgendwann schlachten müssen.

STANDARD: Viele Tierschützerinnen und Tierschützer weisen immer wieder auf die teils fürchterlichen Bedingungen bei der Massentierhaltung hin, fordern bessere Haltebedingungen und mehr Tierrechte. Sollten wir ihre Forderungen nicht ernster nehmen?

Steffelbauer: Die Massentierhaltung abzuschaffen halte ich für begrüßenswert. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir unser gewaltiges Bevölkerungswachstum nicht durch "glückliche", auf Weiden grasende Kühe erreicht haben. Deshalb müssen wir uns fragen, was wir statt der Massentierhaltung machen können, um weiterhin die gesamte und weiter wachsende Weltbevölkerung zu ernähren.

STANDARD: Und dafür brauchen wir Fleisch? Wird nicht schon jetzt allein für das Tierfutter weit mehr Nahrung benötigt, die ansonsten den Menschen zur Verfügung stehen könnte?

Steffelbauer: Die Annahme, dass wir einfach alles auf pflanzliche Produktion umstellen können und dadurch das Klima und die Umwelt profitieren, ist eine sehr vereinfachte Sicht auf die Dinge. In Wahrheit ist unser Agrarsystem weit komplexer. Wir können viel von traditionellen landwirtschaftlichen Systemen und der Verschränkung zwischen Nutztieren und Ackerbau lernen.

STANDARD: Inwiefern?

Steffelbauer: Es geht darum, dass wir Schweine nicht mit Soja füttern und dafür irgendwo anders auf der Welt den Regenwald abholzen, wenn wir ihnen eigentlich auch Lebensmittelabfälle geben könnten. Ackerbau und Viehzucht sollten sich gegenseitig stützen. Der Weg nach vorn ist jener hin zu einer produktiven, biodiversen Landwirtschaft, in der unterschiedliche Nutztiere und biologische Nischen schlau miteinander kombiniert werden.

STANDARD: Können wir als Konsumentinnen und Endverbraucher nicht schon jetzt mitbestimmen, welches Nahrungsmittelsystem wir wollen?

Steffelbauer: Dass die Kaufentscheidung von mündigen Konsumenten etwas an dem industriellen Agrarsystem ändern kann, ist Augenauswischerei. Dafür haben die großen Lebensmittelkonzerne viel zu viel Marktmacht. Sie entscheiden im Endeffekt, was Sie oder ich kaufen. Stattdessen brauchen wir wieder eine stärkere Partnerschaft zwischen Produzenten und Konsumenten, also ein System, in dem beide Parteien direkter in Kontakt und voneinander abhängig sind.

STANDARD: Manche meinen, es wird in Zukunft ohnehin nur mehr Fleisch aus dem Labor geben. Löst das nicht die Frage nach dem landwirtschaftlichen System?

Steffelbauer: Nein, denn wenn wieder einige wenige Konzerne den neuen Laborfleischmarkt kontrollieren, ändert sich letzten Endes wenig. Dann werden wieder andere, womöglich bessere, Alternativen verdrängt. Wir brauchen Laborfleisch nicht, wir können das auch anders lösen, mithilfe von nachhaltigen und ökologische Agrarsystemen. Natürlich muss uns klar sein, dass dabei nicht mehr dieselben Mengen an Fleisch zur Verfügung stehen werden. Stattdessen werden wir weniger, aber dafür besser essen. (Jakob Pallinger, 24.4.2021)