Man kennt sie aus den Medien und dem Bekanntenkreis: jene Kinder von Ärzten, jene Bürgermeister und deren Freunde, die jung und gesund sind, aber dennoch bereits geimpft wurden. Die Impfvordrängler. Ein solches Verhalten ist freilich nicht gutzuheißen, zumal die Vordrängler jenen Menschen die Impfung wegschnappen, die sie dringender brauchen würden – und somit deren Leben gefährden. Zugleich ist jedoch eine regelrechte Blockwartmentalität entstanden, die jedem jungen Menschen entgegenschlägt, der seine Impfung im Bekannten- und Kollegenkreis oder auf sozialen Medien kundtut. "Warum denn?", lautet hier augenblicklich die erste Frage. Zwischen den Zeilen ist gemeint: Warum du und nicht ich? Hast du dich etwa vorgedrängelt?

Beim Großteil der Junggeimpften handelt es sich nicht um schwarze Schafe.
Foto: APA/EXPA/JOHANN GRODER

Was im Rahmen dieser Vorverurteilung oft vergessen wird: Beim Großteil der Junggeimpften handelt es sich nicht um schwarze Schafe – sondern um Menschen, mit denen man eigentlich nicht tauschen möchte. Etwa die Kindergärtnerinnen, denen die Kleinen täglich mehrmals ins Gesicht husten. Oder die werdenden Familienväter, die sich um die Gesundheit ihrer unimpfbaren Lebensgefährtinnen und mögliche Langzeitschäden an ihren ungeborenen Kindern sorgen müssen. Und die Pflegekräfte und Angestellten im Gesundheitsbereich, die an vorderster Front gegen das Virus kämpfen: oft prekär beschäftigt, nach mehr als einem Jahr Pandemie körperlich und emotional vollkommen ausgebrannt – anfangs haben viele noch jeden Abend für sie geklatscht, aber das ist schon wieder vorbei.

Und dann die Gruppe der chronisch Kranken. Sie haben Diabetes, Asthma oder Immunschwächen. Das sind Leiden, die viele dieser Menschen ein Leben lang mit sich herumschleppen. Sie sind in ihrem Alltag teils massiv eingeschränkt, haben eine niedrigere Lebenserwartung als andere. Und diesen Menschen gegenüber empfindet man einen Neid, weil sie eine begehrte Spritze ein bis zwei Monate früher bekommen?

In unserer gespaltenen Gesellschaft brauchen wir wieder mehr gegenseitiges Verständnis – vor allem gegenüber den chronisch Kranken, die nicht nur ein Recht auf die Impfung haben, sondern sich auch nicht ständig mit emotional belastenden Erklärungen ihrer Krankheit dafür rechtfertigen sollten. Solange es jedoch diese Missgunst in der Gesellschaft gibt, gilt für die Geimpften: den Ball flachhalten. Der eigenen Erleichterung zum Trotz diese nicht öffentlich kundtun. Schlichtweg zum Zweck des emotionalen Selbstschutzes. (Stefan Mey, 24.4.2021)