Kanzler Kurz, Vizekanzler Kogler, Ministerin Köstinger: Setzt das Regierungstrio auf dem Weg zur Normalität zu viel aufs Spiel?

Foto: Robert Newald

Lang ist es her, dass die Regierung eine Sieben-Tages-Inzidenz von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohnern zur kritischen Größe erklärt hat. Seit Anfang April ist die Rate zwar gesunken, liegt österreichweit derzeit aber immer noch bei 183,4. Trotzdem kündigt die türkis-grüne Koalition für Mitte Mai das Ende des derzeit regional abgestuften Lockdowns an: Wirtshäuser und Hotels sollen ebenso aufsperren wie Theater und Sportstätten. Ist das vernünftig? Die Fachwelt urteilt unterschiedlich.

Es sei vertretbar, dieses Ziel anzuvisieren, sagt Dorothee von Laer, Virologin an der Universität Innsbruck. Die steigende Durchimpfung würden ebenso wie der immer wärmere Frühling, der die Menschen an die wenig ansteckungsträchtige frische Luft zieht, zur Entspannung beitragen: "Wenn alles gut geht, kann man die Öffnungen machen." Von Laer warnt aber vor einem pauschalen Freibrief. In Regionen mit hoher Inzidenz dürfe nicht aufgesperrt werden, sagt die Expertin und denkt da etwa an Tirol, wo eine so genannte Fluchtmutation kursiert, die gegen Impfungen eine gewisse Resistenz haben dürfte: "Derzeit scheint die Verbreitung nicht im Griff zu sein."

"Unnötiges Risiko"

Michael Wagner ist deutlich skeptischer. "Ich halte den Öffnungsplan für zu riskant", sagt der Mikrobiologe, Mitglied im STANDARD-Fachrat: "Die Regierung geht ein unnötiges Risiko ein, das in einem nochmaligen Lockdown enden kann." Die Schulen und den Handel würde auch er öffnen, alle restlichen Bereiche aber erst in einem bis in den Sommer hinein angelegten Stufenplan: "Indoorbereiche müssten als letztes drankommen. Ich kann nicht verstehen, warum man diese voreilig öffnet. Die Deutschen oder auch die Briten sind trotz niedrigerer Infektionszahlen deutlich vorsichtiger."

Kein Experte könne mit Sicherheit voraussagen, wie das Experiment enden wird, räumt Wagner im STANDARD-Gespräch ein. So sei etwa unklar, wie stark die warme Jahreszeit das Virus zurückdrängt. "Es kann schon auch gut ausgehen", sagt er, doch die Erfahrungen aus Vorarlberg, das als "Modellregion" die Gastronomie als einziges Land bereits Mitte März öffnen durfte, stimmten ihn nicht optimistisch: "Anders als behauptet wird, ist das Modell meiner Meinung nach kein Erfolg. Die Infektionszahlen haben sich innerhalb kurzer Zeit vervierfacht. Auch das viele Testen hat dies nicht verhindert."

Hoch angesetzte Wette

Auch Gerald Gartlehner verweist als warnendes Beispiel auf Vorarlberg, das trotz eines "guten Gesamtkonzepts" mittlerweile die dritthöchste Inzidenz in Österreich aufweist. Am 19. Mai bedingungslos zu öffnen, wäre deshalb "ganz sicher falsch", sagt der Experte für Evidenzbasierte Medizin von der Donau-Universität Krems, denn bis dahin könne noch viel passieren. Die gute Ausgangslage, von der Kanzler Sebastian Kurz gesprochen habe, sehe er eigentlich nicht: "Die müssen wir uns noch schaffen."

Kritische Stimmen gibt es auch in der Ampel-Kommission gesehen, berichtet die Austria Presse Agentur. Laut internem Protokoll der Sitzung diese Woche sprach Vorsitzender Ulrich Herzog davon, dass die aktuelle Situation durchaus Parallelen zu jener im Herbst aufweise, als die Infektionszahlen in der Folge explosionsartig stiegen. Herzog fasste demnach zusammen, "dass die geplante Vorgehensweise eine hoch angesetzte Wette gegen den Impffortschritt ist." Es sei zu hoffen, "dass man diese Wette nicht verliert". (Gerald John, 24.4.2021)