Der Schuldspruch für den Polizisten Derek Chauvin wird in den USA als ein historischer gefeiert. Laura Bronner schreibt in ihrem Kommentar, dass die Datenlage keinen Grund zu Optimismus gibt.

Vor einer Woche wurde Derek Chauvin, der Ex-Polizist, der im Mai 2020 George Floyd umgebracht hat, in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen. Aber in den USA sind Polizeigewalt und Rassismus dermaßen miteinander verflochten, dass es viel mehr als eines Schuldspruchs bedarf, um das System zu reformieren.

Die Datenlage gibt keinen Grund zu Optimismus. Um die 1600 Menschen kommen jedes Jahr bei Zwischenfällen mit Polizisten ums Leben, davon werden etwa 1000 erschossen. Diese Zahl hat sich in den letzten Jahren trotz steigender Medienaufmerksamkeit nicht verändert. Weiterhin werden Schwarze und Latinos in fast allen Städten wesentlich häufiger verhaftet und auch umgebracht als Weiße – in Chicago zum Beispiel 22-mal häufiger.

Bagatelldelikte von Schwarzen auf der Straße werden von der US-amerikanischen Polizisten viel eher geahndet als jene von Weißen.
Foto: AFP/JIM WATSON

Halten sich schwarze Menschen einfach weniger an Gesetze als weiße Menschen? Ein genauer Blick auf die Daten zeigt, dass die Situation komplizierter ist: Die Polizei verhält sich Schwarzen gegenüber anders als Weißen, was dazu führt, dass diese Ungleichheit perpetuiert wird.

Vor allem Bagatelldelikte von Schwarzen werden viel häufiger geahndet als von Weißen. Nehmen wir "jaywalking", bei Rot über die Straße gehen, oder "loitering", herumhängen. In den Städten Champaign und Urbana in Illinois sind rund 90 Prozent der wegen "jaywalking" Verhafteten schwarz, obwohl Schwarze nur 16 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Finanzieller Teufelskreis

Dieses "overpolicing" von Bagatelldelikten führt auch in einen finanziellen Teufelskreis, wie eine Untersuchung des Justizministeriums in Ferguson, Missouri, nach dem Tod des Teenagers Michael Brown ergeben hat: Die Bagatelldelikte werden mit Geldstrafen sanktioniert, die häufig nicht bezahlt werden können, was dann wiederum zu zusätzlichen, höheren Geldstrafen, Führerscheinentzug und schließlich zu Freiheitsstrafen führt – ein Schneeball, der zu einer Lawine wird, weil in vielen Staaten Gerichts-, Bewährungs- und sogar Haftkosten von Angeklagten selbst übernommen werden müssen.

So kann, wie ein Fall aus 2007 zeigt, eine einzige unbezahlte Anzeige wegen Falschparkens über sieben Jahre hinweg zu mehreren Geld- und Haftstrafen führen oder eine abgelaufene Autoversicherung zu einem entzogenen Führerschein und weiteren Strafzahlungen. Ein Drittel der Führerscheinentzüge in New Jersey ist einer Studie zufolge auf unbezahlte Geldstrafen zurückzuführen, und 42 Prozent derjenigen, die nicht mehr fahren durften, wurden daraufhin arbeitslos.

Gleichzeitig ist es schwierig, Muster zu durchbrechen: Polizisten machen Fehler, können aber nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil diese Fehler von eingeschworenen polizeiinternen Seilschaften tabuisiert und verfälscht dargestellt werden. Es gibt selten berufliche oder gerichtliche Konsequenzen. Und es sind häufig dieselben Polizisten, die an Gewaltvorfällen beteiligt sind: Auch gegen Chauvin gab es bereits 22 Beschwerden und interne Verfahren. Nur wenige Polizisten werden nach Gewaltvorfällen entlassen, auch weil ihre Verträge das oft sehr schwer machen.

Dieses System des Mauerns führt dazu, dass Polizisten für ihre Taten so selten verurteilt werden: Seit 2005 wurden nur 140 Polizisten nach Schießereien wegen Mordes oder Totschlags angeklagt, und selbst von diesen wenigen wurden nur 44 verurteilt, die meisten wegen geringfügigerer Delikte.

Hohe Hürden für Opfer

Das liegt daran, dass Opfer von Polizeigewalt oder -willkür vor Gericht zusätzliche Hürden überwinden müssen, zum Beispiel die der "qualified immunity": Regelverstöße von Polizisten sind nur dann strafbar, wenn sie in einer haargenau gleichen Situation bereits in Gerichtsverfahren bestraft wurden, ansonsten kann die Ausrede gelten, man habe nicht gewusst, dass es verboten sei. Polizisten können sich auch oft auf Selbstverteidigung berufen, um ihr gefährliches und aggressives Verhalten zu rechtfertigen. Aus diesem Grund müssen Städte jährlich viele Millionen US-Dollar an Steuergeldern für außergerichtliche Vergleiche ausgeben, ohne dass sich die Situation verändert.

Wie wenig ein Schuldspruch allein bewirken kann, zeigt sich am Beispiel Minneapolis: Genau in jener Stadt, in der Floyd letztes Jahr starb, wurde ein Polizist bereits 2019 zu 12,5 Jahren Haft verurteilt, nachdem er zwei Jahre vorher die Australierin Justine Damond erschossen hatte. Ihre Familie erhielt damals eine Abfindung von 20 Millionen US-Dollar. Die Stadt Minneapolis versprach daraufhin, dass sich am Verhalten der Polizei einiges ändern würde.

Was auch immer geändert wurde, es war nicht genug, um George Floyds Tod zu verhindern. Und nur wenige Tage vor Chauvins Urteil wurde in Brooklyn Center, knapp außerhalb von Minneapolis, wieder ein schwarzer Mann, Daunte Wright, von einer Polizistin erschossen.

Ein einziger Schuldspruch allein kann ein System nicht auflösen. Dazu braucht es nachhaltige Reformen bei der Polizei. (Laura Bronner, 27.4.2021)