Nie erlahmendes Interesse für die Erniedrigten und Beleidigten: Michel Foucault frönte Ende der 1960er in Tunesien den Lüsten und schrieb die "Archäologie des Wissens".

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Die gleißende Sonne Nordafrikas muss auf Frankreichs Intellektuelle eine stark enthemmende, zugleich beglückende Wirkung ausgeübt haben. Von der Küste Marokkos bis nach Tunesien reicht das Experimentierfeld so glänzender Moderne-Vertreter wie André Gide, Michel Leiris, Albert Camus oder Michel Foucault. Jeder von ihnen bereiste den schwarzen Kontinent. Sie alle bestimmten späterhin, mit nicht erlahmender Intensität, die geistigen Geschicke der Grande Nation im 20. Jahrhundert.

Durch die Interventionen dieser Radikalen wurde die Welt nicht nur in den Salons in Aufruhr versetzt. Das intellektuelle Feld wurde von Foucault und Konsorten gleichsam unwiderruflich, Schritt für Schritt, neu vermessen. Erstes Ziel der afrikanisch gelockerten, vom süßen Duft der maghrebinischen Märkte erbauten Dichter und Denker: die strikte Ablehnung jeder überkommenen Moral.

Sie alle, und viele ihrer maßgeblichen Parteigänger, blickten etwa seit Ende des Ersten Weltkriegs voller Faszination auf die vermeintliche Urwüchsigkeit der Afrikaner. Im Gefolge der französischen Kolonialherrschaft stießen Surrealisten, Ethnologen, Existenzialisten auf Lebensbekundungen, die sich beliebig modeln und messen ließen. Besser noch: Man konnte sie egoistisch gebrauchen und subversiv interpretieren.

Vor allem ließ sich die berauschende Schönheit Afrikas, die Willfährigkeit seiner Bewohner, von den Taktgebern des Fortschritts beliebig deuten. Denker wie der Meister-Existenzialist Jean-Paul Sartre (1905–1980) bezogen das energiepolitische Zubehör zu den Revolutionsplänen, die sie wälzten, liebend gerne aus dem afrikanischen Norden.

Schauspiel der Absurdität

Dagegen mögen sexualmoralische Erwägungen, im Sinne eines Unrechtsbewusstseins, nach damaligem Maßstab unbedeutend gewesen sein. Die strikte Ablehnung jeder bürgerlichen Moral wog sehr viel schwerer. Die jüngst gegen den Philosophen Foucault erhobenen Vorwürfe lauten: Der unbestechliche Analytiker moderner Unterdrückungstechniken habe sich 1969, im Schutz der Nacht und geduckt hinter tunesischen Grabhügeln, angeblich an Minderjährigen vergangen. Die Anschuldigungen wurden vom Essayisten Guy Sorman vor ein paar Wochen neu aufgebracht ("Der Standard" berichtete). Ihrem Gehalt nach bestätigen sie nicht nur Foucaults sexuelle Neigungen. Sie illustrieren eine Gesamtlage, die sich einzig und allein mentalitätspolitisch begreifen lässt.

Noch heute vermitteln Camus‘ in Algerien angesiedelte Erzählungen ein suggestives Bild: eine vor Helligkeit blitzende, nach Lavendel duftende Kulisse. Sie eignet sich famos als Bühne für das verstörende Schauspiel menschlicher Absurdität ("Der Fremde"). Sie dient aber auch als Anschlussstelle.

Hier, in Nordafrika, wurde die Entfremdung durch den Kapitalismus aufgehoben. Zunächst warfen sich die Intellektuellen zu Herren der Welt auf. Bereitwillig gestanden Sartre und Co. den Unterdrückten zu, das Rüstzeug zu bilden für die angeblich kommende Revolution.

Nur der subversive Intellektuelle besitze die Kraft der Zusammenschau. Durch ihn und seinesgleichen würde die Rolle der Massen, des Proletariats, des Volkes erst kenntlich gemacht. Und so proklamierte Sartre nach 1948, erst in stärkerer, dann in schwächerer Anlehnung an die KP Frankreichs, die historische Rolle der Erniedrigten und Beleidigten.

Neue Hoffnungsträger

Nur durch sie würde jene "konkrete Universalität" eingelöst, mit deren Hilfe man das, was ist, ein für alle Mal aufhebt. Mit der Einsetzung der Unterdrückten als bestimmender Kraft rücken schlagartig neue Hoffnungsträger in den Blick. Zu den "klassisch" Deklassierten wie dem europäischen Industrieproletariat gesellen sich jetzt die Verfemten unterschiedlichster Kategorien. Sie rekrutieren sich aus den Gefängnissen, den Nervenkliniken, finden sich in den widerwillig preisgegebenen Kolonien.

Sartre feiert den verurteilten Straftäter und Meisterprosaisten Jean Genet als "Heiliger Genet, Komödiant und Märtyrer" (so sein Buchtitel 1952). Der schmilzt alles Böse, das ihm gesellschaftlich widerfährt, um. Genet, der zum Dieb bestimmt war, macht aus sich selbst einen Dichter, der "das Verrufene und Ausgestoßene heiligspricht". Genet verbrachte nicht von ungefähr einige Zeit seines anrüchigen Lebens in Nordafrika, in Tanger.

Delinquenz und Außenseitertum rufen bei Frankreichs Meisterdenkern helle Freude hervor. Sartre wird noch das vor Radikalismus triefende Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialer Erweckungsschrift "Die Verdammten dieser Erde" (1961) schreiben. Darin heißt es: "Der Eingeborene hat nur eine Wahl: die Knechtschaft oder die Souveränität."

Gut ist, was Schluss macht mit der bürgerlichen Wohlanständigkeit. Andere, deutlich praktischer veranlagte "Afrophile" geben sich mit sexualtouristischen Erkundungen zufrieden. Die in den ehemaligen Kolonien ausgelebte Sexualität schlägt die gedankliche Brücke. Sie führt zurück in eine Antike, in der es noch keine Unterdrückung der Lüste gegeben haben soll. Immerhin nach Lavendel duftete es wohl schon damals. (Ronald Pohl, 28.4.2021)