Peer Gynt (Anna Drexler) und seine Mutter Aase (Michael Lippold) in der Auftaktszene in Bochum.

Foto: Matthias Horn

Wie sich echtes Theater derzeit anfühlt, das wissen nur Menschen in Vorarlberg. Alle anderen in Österreich bleiben bis 19. Mai auf diverse Mattscheiben verwiesen. Streamingangebote gibt es fast überall, Livestreams schon eher selten. Und Livestreams großformatiger Premierenabende sind rares Gut. Eine Bühne aber hat bereits im Herbst auf alle Lockdown-Prophetie gepfiffen und sich für die Übertragung ihres Spielplans in abgefilmter Form entschieden: das deutsche Schauspielhaus Bochum unter Johan Simons. Mit dessen Inszenierung von Richard II. lässt übrigens auch das Burgtheater am 4. Mai einen großen Livestream vom Stapel (19.30 Uhr).

Bochum hat auf diese Weise bereits neun Inszenierungen gezeigt (davon eine Lesung), im Mai folgen weitere vier. Bildschirm bleibt Bildschirm, doch das mit bis zu sieben Kameras übertragene Livespiel samt dem nachfolgenden Publikumsgespräch rückt näher an gewohnte Theatererlebnisse heran als so manch anderes.

Crossgendern

Die jüngste Bochumer Arbeit gilt Henrik Ibsens Peer Gynt. Regie führte der durch Arbeiten an Burg- und Volkstheater auch hier gut bekannte Regisseur Dušan David Pařízek (jener, der häufig Overheadprojektoren einsetzt). Nächste Vorstellung am 15. Mai; es lohnt sich.

Die Inszenierung begegnet dem 150 Jahre alten Text auf mehreren Fronten. Zunächst einmal ist die Titelfigur mit Anna Drexler weiblich und die Mutter Aase männlich besetzt, was sämtliche Zuschreibungen in ein neues Licht rückt: Wer geht auf Brautschau ("leckeres Naturgeschöpf")? Wer übt Gewalt an wem aus? Auch Schlagworte wie "Weibertratsch" kriegen neuen Schwung. Und die Niedlichkeit, die Peer seiner Freundin Solveig attestiert, bekommt durch das Crossgendern eine ganz andere Schlagseite. Wir sehen an diesem heillos mit sich selbst beschäftigten Weltflüchtling Peer, dass nicht immer nur die Buben Gfraster sind.

Neuer Schluss

Auf einer riesigen Holzsteilwand lässt Pařízek die Vorgänge ins Rutschen geraten. Einmal beginnt dabei ein sich auf der Schräge befindliches Akkordeon allein durch die Schwerkraft zu atmen und also zu musizieren. Die Liveband The Fired Five (geleitet von dem in Wien ebenso bekannten Peter Fasching) zieht die Szenen immer wieder auf Subtextgelände hinüber.

Pařízek empowert die klein gehaltenen Rollen. So kontert die Beduinentochter Anitra (Mercy Dorcas Otieno) mit Auszügen aus einem 1987 gegebenen Interview der ghanaischen Schriftstellerin Ama Ata Aidoo. Und die Schauspielerin der sonst brav daheim auf Peer wartende Solveig, Anne Rietmeijer, hat sich den eigenen Part gleich selbst umgeschrieben: "Ich möchte Solveig nicht mehr sein." Weltliteratur, wie sie heute neu auflebt. (Margarete Affenzeller, 27.4.2021)