Weil die Diskussion über die Corona-Pandemie zurzeit alles überlagert, ist das andere Riesenthema der europäischen Politik ein wenig in den Hintergrund getreten: die Migration. Dabei zeigt sich, dass in dieser Frage sowohl die öffentliche Meinung als auch die politische Reaktion auf diese der Faktenlage, wie sie die Wissenschaft herausgefunden hat, weit hinterherhinkt.

Dieser Tage ist im Verlag der Akademie der Wissenschaften das Jahrbuch Migrationsforschung "Flucht und Asyl – internationale und österreichische Perspektiven" erschienen. Was die Forscher aufgrund einer Überfülle von statistischem Material vorlegen, wirkt auf den österreichischen Zeitungsleser zunächst überraschend.

Österreich hat in der Person von Susanne Raab eine Ministerin für Integration.
Foto: imago images/SEPA.Media/Martin Juen

Ja, es stimmt, dass Europa in den letzten Jahren von einem klassischen Auswanderungs- zu einem Einwanderungskontinent geworden ist. Aber weltweit gesehen ist die Zuwanderung nach Europa geringfügig. "Der Kontinent der sogenannten Flüchtlingskrise ist aus globaler Perspektive nur eine Randnotiz", schreibt der Migrationsexperte Andreas Exenberger.

Flucht, Vertreibung, Abwanderung, Mobilität ganzer Bevölkerungsgruppen spielen sich zum allergrößten Teil in Afrika und Asien ab. Gibt es also gar keine echte Flüchtlingskrise? Doch, sagt der Forscher. Aber nicht aufgrund einer zahlenmäßigen Überforderung, sondern als "Identitätskrise aufgrund eines unbewältigten Strukturwandels".

Einwanderungsland Österreich

Und wie steht Österreich als Einwanderungsland da? Nicht gut, wenn man den Experten glaubt. Seit dem Höhepunkt der Zuwanderung im Jahr 2015 wurden die Integrations- und Asylgesetze ständig verschärft. Eines davon, die Kürzung der bedarfsorientierten Mindestsicherung für Asylberechtigte mit befristetem Aufenthalt, wurde vom Europäischen Gerichtshof gekippt.

Die Hürden für den Erhalt von Asyl, klagen die Fachleute, werden immer höher und die Wartezeiten von Asylbewerbern auf einen Abschluss ihres Verfahrens immer länger. Die Folge: Je länger Asylwerber ohne Möglichkeiten zu arbeiten und ohne Aussicht auf Qualifizierung im Lande leben, desto geringer werden ihre Chancen, später in den Arbeitsmarkt einzusteigen.

Wieder ein Zitat aus der Studie: "Das ist ein Wahnsinn, wie die Menschen da kaputtgemacht werden." Auf Bundesebene, erklären die Forscher, herrsche "eine Logik der Abschottung und der Meidung von Maßnahmen, die eine Attraktivierung Österreichs als Zielland bewirken könnten – zum Schaden jener Personen, die bereits in Österreich sind und bleiben werden".

Eine Praktikerin formuliert es so: "Die Politik mahnt immer Integration ein – und verhindert sie Tag für Tag immer mehr."

Ein anderer Aspekt des Problems ist die gängige strikte Trennung von Asyl und Migration. Wer persönlich verfolgt wird, hat Anspruch auf Asyl. Wer "nur" ein besseres Leben will, hat keinen. In der Realität, sagt der Politologe Stefan Schlegel, lässt sich diese Trennlinie nicht ziehen. Meist geht es um beides.

Österreich hat in der Person von Susanne Raab eine Ministerin für Integration. Ob sie und ihre Berater das Jahrbuch gelesen haben? Man kann es nur hoffen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 29.4.2021)