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Mit Vizepräsidentin Kamala Harris und der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, saßen erstmals in der Geschichte der USA zum Anlass der Rede zwei Frauen hinter dem Präsidenten.

Foto: AP/Melina Mara

Vielleicht ist es das, was über diesen Abend dereinst in den Geschichtsbüchern stehen wird: Der Kongress der USA feierte eine Premiere. Zum ersten Mal überhaupt sitzen zwei Frauen auf den beiden Sesseln im Präsidium des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi und Kamala Harris. "Madame Speaker, Madame Vice President", wendet sich Joe Biden an das Duo, bevor er vom Teleprompter abzulesen beginnt. "Kein Präsident", schiebt er hinterher, "hat diese Worte jemals gesagt. Und es wurde allmählich Zeit." Eine Parlamentschefin und eine Vizepräsidentin im Duett hinter dem Pult – eine historische Stunde in Washington.

Was folgt, ist eine Rede zur Lage der Nation, die nur eben nicht so genannt werden darf, weil eine "State of the Union Address" in einer so frühen Phase der Amtszeit eines neuen Staatschefs noch nicht auf dem Programm steht. Was folgt, ist der optimistische, schwärmerische Grundton, der Reden zur Lage der Nation seit jeher prägt. Biden, am Freitag 100 volle Tage im Amt, spricht von den 100 Tagen der Rettung und Erneuerung, nach denen Amerika bereit zum Abheben sei. "Wir arbeiten wieder. Träumen wieder. Entdecken wieder. Führen die Welt wieder an. Wir haben einander und der Welt bewiesen: Aufgeben, das gibt es nicht in Amerika." Vor hundert Tagen sei das Haus Amerikas in Flammen gestanden. Man habe handeln müssen – und gehandelt.

Drama

Nach der melodramatischen Eröffnung, typisch für solche Anlässe, wird er konkret, der 78-Jährige, der als Mann des Anstands, der Empathie und des Kompromisses ins Weiße Haus gewählt worden ist, nun aber überraschend konsequent weitreichende Reformen anstrebt. Nachdem er im März ein 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket durch die Legislative brachte, wirbt er für ein 2,3-Billionen-Paket zur Modernisierung der Infrastruktur und skizziert erstmals ein drittes, ebenso ehrgeiziges Programm. Der "American Families Plan", beziffert mit 1,8 Billionen Dollar, soll die Kinderbetreuung in einer Weise erschwinglich machen, dass es für amerikanische Verhältnisse revolutionär genannt werden kann.

Die Rede von US-Präsident Joe Biden in voller Länge.
CNBC Television

Massive staatliche Zuschüsse sollen die Mittelschicht finanziell entlasten und es auch Geringverdienern ermöglichen, den Nachwuchs in einen Kindergarten zu schicken. Keine Familie, stellt Biden in Aussicht, soll mehr als sieben Prozent ihres Einkommens für die Betreuung ihrer Kinder ausgeben müssen. Ein Durchschnittshaushalt, rechnet er vor, werde sich pro Jahr rund 15.000 Dollar an Kosten sparen.

Mutterschaftsurlaub

Zudem wollen die Demokraten zwölf Wochen bezahlten Urlaub nach der Geburt eines Babys durchsetzen, auch das für amerikanische Verhältnisse ein Riesenschritt. Der Anspruch soll auch dann gelten, wenn kranke Angehörige zu versorgen sind.

Schließlich der Bildungsteil des Pakets: Drei- und Vierjährige sollen mithilfe kostenloser Vorschulprogramme auf das Lernen im Klassenzimmer vorbereitet werden, während Highschool-Absolventen, wenn sie denn möchten, ein Community College besuchen können, wofür sie keinen Cent an Gebühren zu berappen haben. Community Colleges sind Hochschulen, an denen das Studium nach zwei Jahren beendet ist. Mit seinem Vorschlag geht Biden einen halben Schritt auf den linken Flügel seiner Partei zu, der generell gebührenfreie Universitäten fordert.

Steuererhöhungen

Finanziert werden soll der "American Families Plan", indem die 2017 von Donald Trump durchgesetzten Steuersenkungen, von Ausnahmen abgesehen, rückgängig gemacht werden und hier und da noch draufgesattelt wird. Kernstück der Blaupause ist der Vorschlag, die Kapitalerträge von Einkommensmillionären genauso hoch zu besteuern wie Löhne, wobei der Spitzensatz künftig bei 39,6 Prozent liegen soll.

Als der Präsident die Skizze präsentiert, rührt sich bei den Republikanern in den pandemiebedingt nur dünn besetzten Sitzreihen keine Hand zum Applaus. Biden habe versprochen, das Land zu einen, tue nun aber das genaue Gegenteil, kritisiert der konservative Senator Tim Scott, ein Afroamerikaner aus South Carolina, als er im Namen seiner Partei auf die Vorschläge antwortet. Was der Präsident präsentiert habe, sei eine Wunschliste von Leuten, die ganz auf "Big Government" setzten, statt Kompromisse mit den Republikanern anzustreben.

Konkurrent China

Das vielleicht Markanteste an Bidens Rede: Innenpolitische Reformen ordnet er mit dringlicher, fast schon dramatischer Rhetorik ein in den Wettstreit mit China, dem großen Konkurrenten der USA. Manche seien der Meinung, dass eine Demokratie mit einer Autokratie wie der chinesischen nicht konkurrieren könne, da es in Demokratien zu lange dauere, zu einem Konsens zu gelangen, sagt er. Dem müsse sich sein Land stellen. "Wir müssen beweisen, dass die Demokratie immer noch funktioniert, dass unser Staatswesen funktioniert und wir liefern können für unsere Leute." (Frank Herrmann aus Washington, 29.4.2021)