Um Österreichs Demokratie steht es schlecht. Zwischen Corona-Lockdowns, Wirtschaftskrise und Korruptionsskandalen sinkt das Vertrauen in die bestehenden politischen Institutionen und Amtstragenden. Derweil sind der Klimakrise Politikverdruss und Corona-Müdigkeit herzlich egal. Die österreichischen Emissionen stehen weiter auf einem Höchststand und der Rechnungshof warnt bereits jetzt vor verfehlten Klimazielen für das Jahr 2030.

Wo Parteipolitik bisher gescheitert ist, soll jetzt die Zivilgesellschaft mit anpacken und der Demokratie neues Leben einhauchen. Hundert repräsentativ für die Bevölkerung ausgewählte Menschen werden noch in diesem Jahr zur Bildung des ersten Klimarats Österreichs berufen und sollen darüber beratschlagen, wie die großen Klima-Baustellen im Land angegangen werden können. So wurde es auf Initiative des Klimavolksbegehrens Ende März im Nationalrat beschlossen. Bisher ist noch nicht bekannt, wie verbindlich diese Vorschläge umgesetzt werden müssen. Das übergeordnete Ziel dabei: Österreichs klimaschädliche Emissionen bis 2040 auf Null zu bringen. Bürgerinnen und Bürger wird hier eine entscheidende Rolle zukommen.

Radikalere Bürgerideen

2018 führten kurzfristig eingeführte Treibstoffabgaben in Frankreich zu den Gelbwesten-Protesten. Spätestens seitdem verweisen Klimaschutz-unwillige Entscheidungstragende allzu gerne auf die Ausrede, dass zu tiefgreifende Änderungen in Richtung Nachhaltigkeit von der Bevölkerung nicht mitgetragen würden. Was dabei meist verschwiegen wird: Die Proteste der Gelbwesten richteten sich nicht nur gegen eine einzelne Steuer. Die Menschen gingen in Wahrheit gegen Macrons Politik auf die Straße, die keine Rücksicht auf die Bedürfnisse ärmerer Bevölkerungsschichten nahm, während Privilegien der Reichen unangetastet blieben – und für mehr direkte Demokratie. Dieser Forderung musste Macron wenige Monate später nachkommen, indem er 2020 den ersten französischen “Bürgerkonvent für das Klima” einführte.

Der Klimarat kam zu überraschend radikalen Ergebnissen: Kurzstreckenflüge sollten verboten werden, genauso der Bau von neuen Flughäfen oder Werbung für klimaschädliche Produkte wie Autos. Klimaschutz-Maßnahmen sollten durch eine Klimasteuer für Reiche finanziert werden. Die Aufnahme von Klimaschutz in der französischen Verfassung sowie die Einführung eines neuen Strafbestands Ökozid wurden vom Bürgerkonvent ebenso als Vorschlag erarbeitet. Derart weitreichende Entscheidungen trafen keine radikalen Aktivistinnen und Aktivistinnen oder in Nachhaltigkeitsthemen besonders ausgebildete Menschen, sondern 150 repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger. Faktoren wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Wohnort und Ausbildung sollten bei der Auswahl garantieren, dass die Einstellungen zu Klimaschutz und Interessen der Bevölkerung hinreichend abgebildet waren.

Klima-Demo in Frankreich im März.
Foto: AFP/LOIC VENANCE

Ergänzung zur Politik

Auch in Großbritannien tagte 2020 der erste Klimarat aus 108 Bürgerinnen und Bürgern. Der Abschlussreport beinhaltet 25 Prinzipien sowie konkrete Vorschläge für einzelne Sektoren. Die Ergebnisse scheinen zwar weniger weitgehend als jene des französischen Klimarats. Bemerkenswert ist aber, dass eine überwältigende Mehrheit von 90 Prozent der Teilnehmenden darin übereinstimmt, Bürgerräte künftig häufiger einzusetzen, um die institutionelle Politik zu ergänzen. 88 Prozent sehen einen positiven Einfluss des Klimarats auf den eigenen politischen Gestaltungswillen und das Selbstbewusstsein, sich einbringen zu können.

Die Mitglieder betonen im Report auch: „Dies ist weder der Zeitpunkt, noch das Thema, um parteipolitisches Kleingeld zu schlagen.“ Nicht von irgendwo stammen auch folgende Empfehlungen: 94 Prozent befürworten, dass die Beziehungen zwischen großen Energieunternehmen und der Regierung transparenter gemacht werden sollen. Zudem sollen Bürgerräte und unabhängige Expertinnen und Experten den Fortschritt hin zur Klimaneutralität kontrollieren.

Auch in Österreich zeigen Umfragen, dass die Bevölkerung längst die politische Notwendigkeit von Klimaschutz verstanden hat. So fordern 88 Prozent einen klaren, verbindlichen Plan zur Senkung der CO2-Emissionen. Mehr als 90 Prozent der Befragten sprechen sich für eine ökosoziale Steuerreform aus und knapp 80 Prozent fordern die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen.

Warum die Politik schwerer Entscheidungen trifft

Wie ist es zu erklären, dass Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen treffen, die der Klimakrise eher gerecht werden als es die Politik? Das liegt an der Struktur und den Dynamiken unseres derzeitigen politischen Systems. Die Klimakrise ist an sich schon ein Ergebnis mangelnder Demokratie. Sie ist Ausdruck und Symptom von über hunderten von Jahren gewachsenen Machtstrukturen, die sich mit der Formel weiß + männlich + wohlhabend = mächtig zusammenfassen lässt. Daran hat sich in den letzten Jahrzehnten nur mäßig viel geändert.

Immer noch sind viel weniger Frauen als Männer im österreichischen Nationalrat vertreten. Nur fünf Prozent der Abgeordneten haben eine Migrationsgeschichte, im Gegensatz zu über 20 Prozent in der gesamten österreichischen Bevölkerung. In der Unternehmenswelt ist das Bild noch eindeutiger, hier haben ältere, weiße Männer das Sagen. Von den 87 Vorstandsmitgliedern des österreichischen Börsen-Leitindex ATX sind nur sieben weiblich. Und auch Lobbyismus wird vor allem von Männern betrieben.

Eine ausgeglichene Repräsentation der Gesamtbevölkerung führt nicht automatisch zu besseren Entscheidungen. Aber Beispiele wie der französische Klimarat zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger mithilfe von Expertinnen und Experten progressivere Entscheidungen treffen können als die Politik – und langfristiger ausgerichtete:  Sie sind nicht denselben Zwängen unterworfen wie Politikerinnen und Politiker, die wiedergewählt werden wollen und den Interessen ihrer Partei und Klientel entsprechen müssen. Außerdem können sie durch die zeitliche Kürze ihrer Aufgabe viel weniger das Ziel von Lobbying werden.

Mehr politische Partizipation

Räte aus zufällig ausgewählten Menschen haben also zahlreiche Vorteile. Doch warum sollte sich dieses Instrument der Demokratie nur auf kurzfristige Aufgaben beschränken, etwa um einmalig Klimaschutz-Vorschläge auszuarbeiten? Genauso könnten nach diesem Modell permanente Institutionen geschaffen werden. In Österreich könnte der oft kritisierte Bundesrat durch einen Bürgerrat ersetzt werden, in den auf ein Jahr begrenzt eine repräsentative Auswahl von in Österreich lebenden Menschen gelost werden. Dieser Rat könnte ein Initiativrecht für Gesetzesvorschläge haben, mit denen sich der Nationalrat zwingend beschäftigen muss. Dazu könnten andere Rechte, wie ein Vetorecht kommen, mit denen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrats blockiert und an diesen zur Überarbeitung zurückgeschickt werden.

Auch hier müsste garantiert werden, dass den Teilnehmenden Expertinnen und Experten zur Seite gestellt werden und sie für die Zeit ihrer Teilnahme von ihrem Beruf freigestellt werden und ihr Einkommen gesichert wird. Durch seine Zusammensetzung und Unabhängigkeit wäre ein solcher Rat eine gute Ergänzung zum Nationalrat aus Berufspolitikerinnen und -politikern mit all seinen Stärken und Schwächen.

Gleichzeitig braucht es mehr Möglichkeiten zur politischen Partizipation auf lokaler Ebene. Wenn ländliche Regionen und Städte sich an die Anforderungen der Klimakrise anpassen wollen, werden sich viele Dinge grundlegend ändern müssen. Nicht umsonst spricht der IPCC in seinem 1,5-Grad-Sonderbericht von „schnellen, weitreichenden und noch nie dagewesenen Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft”, die nötig sind, um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Wenn diese Veränderungen auf einer breiten Debatte und demokratischen Entscheidungen basieren, werden sie auch besser angenommen und akzeptiert werden. Für eine solche breite Partizipation braucht es wiederum andere Voraussetzungen: Maßnahmen wie eine Arbeitszeitverkürzung – die aus ökologischer Perspektive ohnehin sinnvoll ist –,ein garantiertes Grundeinkommen und eine gute öffentliche Grundversorgung können größeren Teilen der Bevölkerung eine Teilhabe ermöglichen.

Mehr Macht den Bürgern und Bürgerinnen

Jüngst zeigen Initiativen in Österreich, wie sich die Zivilgesellschaft auf die Beine stellen kann, vor allem, wenn Frust und Wut über das Establishment zu groß werden. So haben sich im Salzburger Land Biobauern, alpine Vereine und Umweltschützer zu einer Aktionsplattform zusammengeschlossen, um Naturzerstörung und Bodenverbrauch mittels direkter Demokratie entgegenzutreten. Die Plattform vereint rund 90.000 Mitglieder und Unterstützende in Salzburg. Diese sind „nicht länger bereit, Fehlentscheidungen auf allen Ebenen hinzunehmen“.

Der „Angriff von Lobbyisten und Geschäftemachern auf unser gemeinsames Gut Natur, Landschaft, Artenvielfalt und Schönheit“ sei schlichtweg „unerträglich stark“ geworden. Neben dem Ausblick, mittels Bürgerbeteiligung Vorschläge und Alternativen ausarbeiten zu wollen, lassen die Initiatorinnen und Initiatoren wissen: „Wir werden uns nicht lange vertrösten oder hinhalten lassen. Ab einem gewissen Punkt wird gekämpft: Fair aber hart. Und mit langem Atem!“

Klar ist also auch: Bürgerräte und andere institutionalisierte Beteiligungsgremien auf verschiedenen Ebenen sind kein Ersatz für eine starke Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen – im Gegenteil. Auch das zeigt das französische Beispiel. Die teilweise sehr weit gehenden Vorschläge des Klimarates wurden von Macron und Parlament so stark verwässert, dass am Ende nur wenig mehr als ohnehin von der Regierung geplante Maßnahmen übrig blieben. Es braucht also nicht nur vor, sondern auch während und nach den institutionalisierten, demokratischen Prozessen politischen Druck aus der Zivilgesellschaft, um nennenswerte Ergebnisse zu erreichen.

Das dürfen wir in Österreich nicht vergessen, wenn der Klimarat und die anderen neuen Institutionen eingesetzt werden. Sonst werden auch die besten Vorschläge nicht mehr als Papiertiger bleiben. Das aktuellste Beispiel: Entgegen der Warnung von Wissenschaft, städtischem Klimarat und dem Widerstand von Bürgerinitiativen setzt die Politik ihre Pläne für neue fossile Großprojekte im Osten Wiens fort. Nur durch politisch ermächtige Bürgerinnen und Bürger und eine breite Mobilisierung werden die geplante Stadtautobahn Aspern und die S1 inklusive Lobautunnel noch verhindert werden können. Da hilft auch kein Bürgerrat mehr. (Veronika Winter, Manuel Grebenjak, 5.5.2021)

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