Im November von vielen bloß gewählt, um sich eine weitere Amtszeit von Donald Trump zu ersparen, überrascht Joe Biden nun seine Landsleute.

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Nur einmal erinnert Joe Biden an diesem Abend an Franklin Delano Roosevelt, auf dessen Spuren er wandelt. Es war "FDR", der eine Tradition begründete, nach der sich US-Präsidenten bereits nach 100 Tagen im Amt ein erstes Zeugnis ausstellen lassen müssen.

FDR war es auch, der mit ehrgeizigen Staatsprogrammen entscheidend dazu beitrug, die Große Depression zu überwinden. Am Mittwochabend dient er Biden als historisches Vorbild. "In einer anderen Ära, als unsere Demokratie schon einmal getestet wurde, hat uns Roosevelt daran erinnert: In Amerika tragen wir alle unseren Teil bei."

Es ist Bidens erster Auftritt vor beiden Kammern des Kongresses, wo er sich nach 36 Jahren im Senat zu Hause fühlt wie kaum jemand sonst. Er nutzt die Gelegenheit, um markanter als bei seiner Amtseinführung darzulegen, wie er seinen Job begreift.

"Middle-Class Joe"

Der Mann, der sich schon früher als "Middle-Class Joe" inszenierte, will die zuletzt arg gebeutelten Mittelschichten stärken. Durch Umverteilung, Subventionen und Investitionen will er verhindern, dass sich Abstiegsängste bewahrheiten.

Ein aktiv handelnder Staat soll im Wettlauf mit dem autokratisch regierten China unter Beweis stellen, dass die Demokratie nach wie vor funktioniert, dass sie "liefert für unsere Leute". "Die Wall Street hat dieses Land nicht aufgebaut. Die Mittelschicht hat dieses Land aufgebaut." Es sind die Kernsätze seiner Rede. Es ist der Leitfaden seiner Regierungsphilosophie.

In Autokratien, sagt Biden, sehe man in den Bildern des Mobs, der am 6. Jänner das US-Kapitol stürmte, den Beweis dafür, dass die Sonne über der amerikanischen Demokratie untergehe. Die USA, glaube man, seien zu sehr durch Wut und Spaltung geprägt, als dass sie noch handlungsfähig seien. "Damit liegen sie falsch. Ihr wisst es. Ich weiß es. Aber wir müssen beweisen, dass sie falsch liegen."

Dann folgt der optimistische Teil. Er habe eine Nation tief in der Krise übernommen. "Die schlimmste Pandemie seit einem Jahrhundert. Die schlimmste Rezession seit der Großen Depression. Der schlimmste Angriff auf unsere Demokratie seit dem Bürgerkrieg."

Jetzt aber sei das Land in Bewegung, sei es bereit zum Abheben. Das Impfprogramm – die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung ist mindestens einmal geimpft – zähle zu den größten logistischen Leistungen, die man je vollbracht habe. Joe Biden, der Cheerleader.

Billionenschwere Pakete

Dann ist da noch der Veteran der Politik, der alle verblüfft, weil er ein Tempo geht, das ihm kaum einer zugetraut hatte. Als habe er, 78 Jahre alt, keine Minute zu verlieren. Als Mann des Anstands, der Empathie und des Kompromisses gewählt, strebt Biden mit überraschender Konsequenz weitreichende Reformen an.

Nachdem er im März ein 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket durchs Parlament brachte, wirbt er für ein 2,3-Billionen-Paket zur umweltgerechten Modernisierung der Infrastruktur und skizziert erstmals ein drittes, kaum weniger ambitioniertes Programm: Der "American Families Plan", beziffert mit 1,8 Billionen Dollar, soll die Kinderbetreuung in einer Weise erschwinglich machen, dass es für amerikanische Verhältnisse revolutionär genannt werden kann.

Massive staatliche Zuschüsse sollen die Mittelschicht finanziell entlasten und es auch Geringverdienern ermöglichen, den Nachwuchs in einen Kindergarten zu schicken. Keine Familie, stellt Biden in Aussicht, soll künftig mehr als sieben Prozent ihres Einkommens für die Betreuung ihrer Kinder ausgeben müssen. Zudem will er zwölf Wochen bezahlten Urlaub nach der Geburt eines Babys durchsetzen.

Schließlich der Bildungsteil des Pakets: Drei- und Vierjährige sollen mithilfe kostenloser Vorschulprogramme auf das Lernen im Klassenzimmer vorbereitet werden, während Highschool-Absolventen, wenn sie denn möchten, ein Community-College besuchen können, wofür sie keinen Cent an Gebühren zu zahlen haben.

Community-Colleges sind Hochschulen, an denen das Studium nur zwei Jahre dauert. Mit seinem Vorschlag geht Biden einen halben Schritt auf den linken Flügel der Demokraten zu, der generell gebührenfreie Universitäten fordert.

Kritik aus der Opposition

Finanziert werden soll der Plan, indem die unter Donald Trump beschlossenen Steuersenkungen, von Ausnahmen abgesehen, rückgängig gemacht werden und hier und da noch draufgesattelt wird. Kernstück ist der Vorschlag, Kapitalerträge von Einkommensmillionären genauso hoch zu besteuern wie Löhne, wobei der Spitzensatz künftig bei 39,6 Prozent liegen soll.

Als Biden ihn präsentiert, rührt sich bei den Republikanern in den pandemiebedingt nur dünn besetzten Sitzreihen keine Hand zum Applaus. Der Präsident habe versprochen, das Land zu einen – nun spalte er es nur noch mehr, kritisiert der konservative Senator Tim Scott, ein Afroamerikaner aus South Carolina, der im Namen seiner Partei eine kurze Erwiderungsrede hält. Mitt Romney, einer der wenigen Republikaner, die Trump die Stirn boten, spricht von einem Präsidenten, der wie ein Verrückter Geld ausgebe.

Biden dagegen appelliert an das Gerechtigkeitsgefühl. Es sei höchste Zeit, dass Unternehmen und die wohlhabendsten Amerikaner einen angemessenen Teil der Steuerlast tragen. Bestrafen wolle er keinen, er habe nichts gegen Milliardäre, nur dies: "Zahlen Sie einfach einen fairen Anteil." (Frank Herrmann aus Washington, 29.4.2021)