Der Applaus für die "systemrelevanten" Berufe war nett gemeint, aber auch nicht mehr. Und in der Zwischenzeit ist auch der schon längst wieder passé. Für die Beklatschten hat sich nichts geändert.

Foto: Tetty Images / iStockphoto

Es waren australische Kohle- und Industriearbeiter, die vor 165 Jahren am 1. Mai 1856 erstmals eine Massendemonstration für bessere Arbeitsbedingungen organisierten. Dreißig Jahre später folgten amerikanische Arbeiter, die 1886 bei einem landesweiten Generalstreik ebenfalls eine Verkürzung der Arbeitszeit von zwölf auf acht Stunden pro Tag forderten. Die größte Versammlung am Haymarket in Chicago endete nach vier Tagen und einem gewalttätigen Polizeieinsatz mit Toten und Verletzten.

Die politische Forderungen der arbeitenden Klasse aber blieben erhalten und 1890 gingen weltweit Millionen auf die Straße. Spätestens da war der 1. Mai als internationaler Kampftag der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung etabliert. In Wien versammelten sich damals mehr als hunderttausend Menschen im Prater, in der Ersten Republik zogen die traditionellen Maiaufmärsche der Sozialdemokratie über die Ringstraße bis zum roten Machtzentrum in der Bundeshauptstadt – vor das Wiener Rathaus.

Applaus zum Nulltarif

Auch heuer, im zweiten Jahr der Corona-Pandemie, musste dieser Platz leer bleiben und der 1. Mai großteils virtuell begangen werden. Zu feiern gibt es im Moment ohnehin nicht viel. Da bleibt mehr Zeit zum Nachdenken und Vorausdenken: Wie wollen wir unsere Gesellschaft, unseren Staat mit den Erfahrungen aus der Pandemiezeit "nach" Corona gestalten? Was müssen wir ändern, auch wenn kein Virus mehr alles dominiert und uns in der Not Lektionen erteilt, die auch in "normalen" Zeiten ohne dramatische Virenintervention sinnvoll und richtig wären.

Das Thema Arbeit ist dabei ein wichtiges, es war und ist ja auch ein zentrales Problemfeld in der Pandemie. Vor einem Jahr wurden die Pflegekräfte in den Spitälern, die die Intensivpatienten alle paar Stunden auf den Bauch drehten, um ihnen das Atmen zu erleichtern, die Supermarktkassierinnen, die täglich Nudeln, Germ und Klopapier abrechneten, oder auch die Müllmänner, die den Mist der anderen wegräumten, noch feierlich mit Applaus bedacht. Ein Jahr später bekommen sie nicht einmal mehr das. Aber auch nicht mehr als vor einem Jahr. Dieser händische Dank war zwar recht, vor allem aber billig. Denn die Beklatschten machen ihre Jobs unverändert zuverlässig weiter, egal, wie intensiv das Infektionsgeschehen "draußen" grassiert. Sie halten das System am Laufen.

Welches "System"?

"Das System". Da war doch was? Systemrelevant! Aber welches System meinen wir? Auch darüber wird zu reden sein. Am besten fangen wir schon jetzt damit an. Denn es hat sich gezeigt, und vielleicht war das eine der wichtigsten Lektionen, die dieser Gesellschaft in der Pandemie erteilt wurde: Es sind nicht unbedingt die schmutzarmen, ruhigen, in der Regel auch besser bezahlten Arbeiten, auf die es im Ernstfall wirklich ankommt, die absolut unersetzlich sind.

Nein, als systemrelevant und nicht durch digitale Heimarbeit im warmen sicheren Homeoffice ersetzbar haben sich all jene Jobs erwiesen, bei denen es um existenzielle Daseinssorge für Menschen geht. Dafür braucht man Menschen. Dafür braucht man Zeit und persönliche Zuwendung. Das Akutbeispiel sind die Intensivstationen: Die Geräte dafür kann sich ein Land wie Österreich schnell leisten. Das hoch qualifizierte Personal ist das Nadelöhr: Das erledigt die Arbeit.

Das Gleiche gilt für die Pflege der Betagten oder die Betreuung von Menschen mit Behinderung, genauso wie die unsichtbaren, leisen Putzkolonnen im Morgengrauen in den Büros. Und auch Kindergärten und Schulen sind so neuralgische Arbeitsplätze, deren Wert und Wertschätzung im jetzigen "System" nicht adäquat mit dem monetären Wert korrespondieren, mit dem sie honoriert werden.

Schiefe Verhältnisse gerade rücken

Diese schiefen Verhältnisse – Bezahlungs- und Anerkennungsverhältnisse – sind der Kern der neuen Arbeiterfrage oder der neue Arbeitsfrage. Sie wird radikal anders zu stellen sein, indem sie klären muss, wie wir in Zukunft mit dem komplexen Gut "Arbeit" umgehen wollen. Wie wir sie gerecht und lebenswert aufteilen und ein System schaffen, das möglichst krisenfest wird – individuell wie gesamtgesellschaftlich.

Vielleicht waren die Corona-Debatten um systemrelevante Arbeit und das Klatschen ja nur erste Vorarbeiten im pandemischen Hochstressumfeld für die "neue Normalität", von der immer die Rede ist. Wenn diese schwierige gesellschaftspolitische Arbeit getan ist, dann haben wir mit etwas Glück (und vor allem genug Impfstoff) am 1. Mai 2022 vielleicht schon allen Grund, den "Tag der Arbeit" auch als "allgemeinen Ruhe- und Festtag", zu dem er am 25. April 1919 erklärt wurde, zu feiern. (Lisa Nimmervoll, 1.5.2021)