Eigentlich kein Liberaler: Patriarch Kyrill.

Foto: OLEG VAROV / Russian Orthodox Church Press Service / AFP

In Russland wird am Sonntag das Orthodoxe Osterfest begangen. Aufgrund des julianischen Kirchenkalenders, an dem sich das Moskauer Patriarchat orientiert, feiern die West- und Ostkirchen das Osterfest in den meisten Jahren getrennt. Heuer betrug der zeitliche Abstand ganze vier Wochen.

Während Papst Franziskus seinen Segen "Urbi et orbi" daher schon Anfang April im wegen der Pandemie fast leeren Petersdom verlas, mussten die russisch-orthodoxen Gläubigen bis zum 1. Mai auf die Ostermesse ihres Kirchenoberhaupts warten. Dafür wurden sie mit einer Botschaft überrascht, die viele von Kyrill so nicht erwartet hätten.

Osterbotschaft

Der Moskauer Patriarch warnte nämlich in seiner Predigt die Obrigkeit – sowohl die weltliche, als auch die kirchliche – vor der Verführung der Macht. An die "großen und kleinen Chefs" gewandt, erklärte der 74-Jährige: "Die Ausübung von Obrigkeitsfunktionen, die unter anderem die Beschneidung der Freiheit anderer erfordert, darf nicht mit Hochmut und Selbstüberhebung einhergehen, denn sonst wird die Herrschaft zur Tyrannei."

Für Trennung von Kirche und Politik

Die Erfahrung der russischen Kirche zeige zudem, dass sie sich abseits der Politik halten müsse. Denn wenn sie politische Macht erringt, werde sie auch Teil der politischen Auseinandersetzung und verliere damit ihre einigende Kraft, fügte Kyrill hinzu.

Der Passus mit der Warnung vor einer Tyrannei wurde schnell zur bestimmenden Schlagzeile der Ostermesse. Eine Reihe politischer Beobachter kennzeichneten die Predigt des Patriarchen angesichts des in jüngster Zeit deutlich verschärften Vorgehens des Kremls gegen die Opposition bereits als "liberal". Sie versuchten darin eine Kritik Kyrills an den um sich greifenden Repressionen herauszulesen.

Das wäre durchaus ungewöhnlich, denn die russisch-orthodoxe Kirche gilt als sehr staatstragend. Kyrills Vorgänger Alexi II rief beispielsweise 2008 offen zur Wahl von Wladimir Putins damaligem Wunschnachfolger Dmitri Medwedew auf und nannte das geplante Tandem mit Putin als Premier einen "Segen Russlands". Kyrill selbst bezeichnete die Regierungszeit Putins als "Wunder Gottes".

Schwierige Interpretation

Die Osterpredigt Kyrills als scharfe Kritik an der Regierung zu deuten, ist daher überzogen. Zumal die Worte sehr allgemein gehalten sind und bei Verlangen auch als Kritik am Lockdown in westlichen Ländern verstanden werden können. Der Religionswissenschaftler Sergej Bytschkow warnt ohnehin vor einer allzu politischen Interpretation der Ostermesse. Die Worte habe Kyrill auf die Lage zu Zeiten von Jesus Christus gemünzt und sich auf das Vorgehen der damaligen religiösen Führer bezogen, die den Tod Christus gefordert hätten, ist er überzeugt. (André Ballin aus Moskau, 2.5.2021)