Während in Österreich Eltern, Kinder und Jugendliche ihre letzten Reserven im Homeoffice und Distance Learning verbrennen, sind in Schweden die Schulen nie geschlossen worden.

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Meinen Bekannten, der als Auslandsösterreicher schon seit Jahren in Schweden lebt, wollte ich anrufen, um etwas über die dortige staatliche Innovationspolitik zu erfahren. Wir kamen aber schnell vom Thema ab. "Wie könnt ihr nur über Monate die Schulen schließen!", platzte es vorwurfsvoll aus ihm heraus. In Schweden sind die Schulen nie geschlossen worden, während hier in Österreich Eltern, Kinder und Jugendliche ihre letzten Reserven verbrennen und sprichwörtlich oft psychisch gegen die Wand fahren.

Kein Zweifel an der Pandemiesituation

Dabei zweifle in Schweden fast niemand an der Pandemiesituation, meinte er. Er sei wie der Rest des Landes im permanenten Homeoffice, treffe Freunde nur im Freien, ins Restaurant geht er nur mit seiner Frau. Den Empfehlungen des weisungsfreien Chefepidemiologen vertraut er. Die Gesamtgesundheit der Bevölkerung hat oberste Priorität, die Regierung stellte sich schon letztes Jahr auf einen "Marathon" ein.

Herausforderung normaler Schulalltag

Ich musste ihm beipflichten. Wäre ich selbst nicht die letzten Monate privilegiert in einer Familienauszeit, wir hätten schon längst psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen. Für meinen ältesten Sohn mit Asperger-Autismus war schon der normale Schulalltag eine Herausforderung, die letzten Monate kämpfte er fast täglich mit der Situation. Wie ging und geht es anderen Eltern mit Kindern mit und ohne Behinderung, die beide berufstätig oder alleinerziehend sind? Wie kommt es, dass Schweden es schafft, Schulen offen zu halten und dennoch in den Kennzahlen nur leicht über Österreich zu liegen! Kann es sein, dass dort eine Gesellschaft solidarisch agiert und entscheidet, die ein anderes Menschenbild hat? Eines, das auf Vertrauen und Zutrauen gründet, nicht auf Entmündigung und Misstrauen. Die Pandemie zeigt in manchen Belangen nicht nur ein Staatsversagen, sondern ein Versagen unserer Gesellschaft im Kollektiv. Und so einfach lässt sich das nicht ändern. Zu verworren ist die Situation, zu diffus die Kommunikation, zu sehr verwirrt das die Menschen. Es kann durchaus sein, dass unüberlegte Öffnungsschritte jetzt Dämme brechen lassen. Eigenverantwortung kann man nicht beliebig ein- oder wieder ausschalten. Die Regierenden haben monatelang auf Regelkonformität und teils auf Angst gesetzt und oft auch falsche Hoffnungsbilder gemalt. Grundfreiheiten wurden schleichend zu "Privilegien".

Sind wir zu unreif?

Kann man in Österreich Entscheidungsfreiheiten wie in Schweden nicht zutrauen? Sind wir zu unreif? Dass rechte Demagogen, wie Herbert Kickl, die schwedische Fahne aus reinem Opportunismus schwenken, hilft meiner Argumentation auch nicht. Demokratische Grundwerte und Vertrauen in die Urteilskraft von Bürgern und Bürgerinnen verteidigen sie nur, wenn sie in der Opposition sind.

Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit

Ich will mir keine Illusionen machen, die Pandemie wird uns länger begleiten, als uns lieb ist. Aber irgendwann, und sei es mit zwei Meter Abstand, müssen wir darüber reden, was Covid-19 mit uns gemacht hat. Wie schaffen wir in unserer Gesellschaft ein Klima, das auf Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit jeder und jedes Einzelnen, auf Eigenverantwortung und Freiheit setzt? (Philippe Narval, 3.5.2021)