STANDARD: Ab heute darf im Handel österreichweit wieder eingekauft werden. Hat der lange Verzicht Konsumgewohnheiten verändert?

Mayer-Heinisch: Die Illusion, dass alles wird wie zuvor, soll man sich abschminken. Der Mensch gewöhnt sich an Verhalten, das ihm während der Lockdowns auferzwungen wurden. Online an Meetings teilnehmen kann jetzt jedes Kind, sogar ich. Das verändert Arbeitsweisen und in der Folge Bürostandorte wie die Wiener Innenstadt. Ein Teil der Kunden des Onlinehandels wurde zu Stammkunden. Und vielen wurde bewusst, dass sie nicht für alles und jedes neue Schuhe brauchen.

Der stationäre Handel öffnet am Montag österreichweit seine Tore. Viele Betriebe brauchen Liquidität und suchen sie in hohen Rabatten.
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STANDARD: Sind die Tage der Wegwerfkultur, der Überflussgesellschaft und des Konsums ohne Rücksicht auf Verluste gezählt?

Mayer-Heinisch: Druck zu stärkerer Nachhaltigkeit kommt von Investoren und Kunden. Leute fragen sich, ob sie weiterhin Hosen um neun Euro kaufen, ob diese nach zwei Wochen Fransenflickwerk sind, wo sie herkommen, ob sie von ausgebeuteten Arbeitern in Südostasien genäht wurden. Covid verstärkt Themen wie diese. Und das hat Folgen für den Konsum. Es ist eine Chance, uns am Riemen zu reißen. Warum etwa braucht es so lange Lieferwege für kleine Konsumartikel?

STANDARD: Könnte das nicht eine Boboblase sein? Viele Menschen haben ihren Job verloren, das Einkommen unzähliger Haushalte sank.

Mayer-Heinisch: Es wirkt sich aus, auch wenn nur ein Teil der Bevölkerung neu denkt. Doch die Welt ist nicht schwarz oder weiß. Zu jedem Trend gibt es einen Gegenpol. Sehen Sie sich Diskonter wie Action, Tedi, Pepco und TK Maxx an. Diese expandieren wie wild.

STANDARD: Was ist, wenn die lange Enthaltsamkeit ins Gegenteil kippt? In eine Spaßgesellschaft mit ungezügelter Konsumlust?

Mayer-Heinisch: Es wird auf Ibiza weiter Partys mit 2.000 Menschen geben. Und wer es sich leisten will, wird in Champagner baden. Covid war jedoch ein Weckruf, und das wird der Handel spüren. Vielleicht rennen jetzt alle in die Geschäfte, weil sie seit drei Monaten einen gelben Pullover haben wollen. Aber eine Million Menschen hat weniger Geld als zuvor.

STANDARD: Textilhändler stecken tief in der Krise. Andere Branchen wie Supermärkte, Möbel- und Sporthändler stehen vielerorts auf gesunden Beinen.

Mayer-Heinisch: Doch die Modebranche macht die Hälfte des Handels mit seinen gut 620.000 Beschäftigten aus. Verkrümelt sich der Handel, veröden Städte und Ortskerne. Arbeit bricht weg, die Lebensqualität sinkt, die Jungen ziehen weg. Es ist eine Spirale nach unten.

STANDARD: Gerade kleine Bezirksstädte kamen wirtschaftlich jedoch weit besser durch die Pandemie als große Shoppingcenter und Einkaufsstraßen.

Mayer-Heinisch: Richtig. Aber das Sterben der Innenstädte begann lange vor Corona. Gibt ein Unternehmen 20 von 100 Filialen auf, trifft dies kleine Gemeinden. Es ist wie in einem Gebiss. Wackelt ein Zahn, wackelt bald sein Nachbar. Kleine Städte brauchen keine Fähnchen und kein Marketing. Über sie gehört strukturell nachgedacht. Was unterscheidet Europa vom Rest der Welt? Seine Städte und Orte. Schönes Meer und schöne Berge haben andere Länder auch. Wobei es Gegentrends gibt: Viele Kreative ziehen aufs Land zurück oder in den Wiener Speckgürtel, weil sie ihre Jobs dank der neuen Technologien auch von dort aus erledigen können. Das bringt Menschen dazu, wieder vermehrt in kleine Orte zu investieren.

Stephan Mayer-Heinisch: "Wollen wir in Österreich mit ein paar herzigen Zuckerlgeschäften übrig bleiben?"
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STANDARD: Werden junge innovative Konzepte die Zahnlücken im Gebiss des Handels füllen?

Mayer-Heinisch: Jede Krise löst einen Kreativitätsschwung aus, vor dem ich hohen Respekt habe. Aber die Großen sind auch nicht blöd. Sie schnappen sich Ideen, sorgen dafür, dass diese in ihrem Kosmos groß werden. Der Sprung vom Start-up in Größe ist ein schwieriges Spiel. Und wir haben nicht die Zeit, die Billa einst hatte, um von einem Laden zu tausenden Filialen zu wachsen. Keiner kann in China einkaufen, ohne zumindest drei Container zu bestellen. Aber welche kleine Betrieb kann sich das leisten? Sieht Amazon bei seinen Plattformkunden, dass rote Pullover mit grünen Streifen gut gehen, wird er sie kopieren und um fünf Euro billiger anbieten. Ein Käsemacher aus Vorarlberg am Wiener Karmelitermarkt ist gut und romantisch. Aber mit 20 Kühen im Ländle ist sein Wachstum als Neuankömmling limitiert. Die Skalierbarkeit Kleiner bleibt ein Problem.

STANDARD: Die Liebe zur Regionalität ist in aller Munde und wird von der Politik stark forciert. Das müsste vielen jungen, kleinen Betrieben doch frischen Rückenwind geben?

Mayer-Heinisch: Da ist viel Sozialromantik dahinter. Das Bekenntnis zu Regionalität in den Sonntagsreden der Politik ist wunderbar. Doch die Rahmenbedingungen für Kleine sind katastrophal. Solange sich hier nichts ändert, bei Lohnnebenkosten etwa, bei Mietvertragsgebühren, sind diese chancenlos. Ins Verdienen, geschweige denn ins Expandieren zu kommen, ist extrem schwierig. Auch Kleine brauchen Eigenkapital, um krisenresistent zu werden. Und Amazon darf steuerlich nicht länger bevorzugt werden.

STANDARD: Österreichs Regierung lässt sich die Rettung der Unternehmen Milliarden kosten. Wäre es nicht klüger, stärker in neue Strukturen zu investieren, als jene künstlich am Leben zu erhalten, die ohnehin ein Ablaufdatum haben?

Mayer-Heinisch: Arbeitslos zu sein, nicht gebraucht zu werden, ist die größte Geißel der Menschheit. Viele haben nun gelernt, dass das von heute auf morgen passieren kann. Aber jetzt gehört umgeschaltet: Wir müssen mehr in Ausbildung investieren, in digitale wie in Pflege. Die Schule an kleinen Betrieben gehört besser unterstützt. Denken wir doch über Tabus nach, stellen wir viel mehr infrage.

STANDARD: Welche Tabus würden Sie brechen?

Mayer-Heinisch: Hat sich Föderalismus nicht überlebt? Warum ist Arbeit in Österreich so teuer? Wie soll Österreich in zehn Jahren aussehen? Wollen wir weitere Konzerne wie MAN verlieren und mit ein paar herzigen Zuckerlgeschäften übrig bleiben? Was den Ruf nach Arbeitszeitverkürzung betrifft: Kein Land kam aus der Krise, indem weniger gearbeitet wurde. Wir werden alle noch mehr arbeiten müssen.

STANDARD: Die Hilfspakete gehören bezahlt. Viel Luft, um Neues zu schaffen, bleibt da nicht.

Mayer-Heinisch: Kurzarbeit steht für mich außer Frage. Bei den anderen Förderungen wird es ein paar getroffen haben, die sie ausgenützt haben, wofür ich mich geniere, und ein paar, die zu Unrecht nichts bekommen haben. Hinterher ist man immer klüger. Aber wir können uns aus der Krise nur hinausinvestieren. Wir müssen Leute zurück in Beschäftigung bringen. Kleine Betriebe sind stabile Arbeitgeber.

STANDARD: Corona hat den Boom des Onlinehandels beschleunigt. Wie viele Jobs im stationären Handel werden nicht mehr zurückkehren?

Mayer-Heinisch: Mittelfristig wird der stationäre Handel 100.000 Leute verlieren. Möglicherweise kommt nur die Hälfte zurück. Aber Onlinehandel ist nicht per se pfui. Es gibt viele österreichische Onlineshops, die regulär Steuern bezahlen und erfolgreich wachsen. Sie bieten Convenience, Preistransparenz, Service und sind darin richtig gut.

STANDARD: Haben Sie während der monatelangen Lockdowns bei Amazon bestellt?

Mayer-Heinisch: Ich werde hier nie über meinen Schatten springen. Vielleicht bin ich ja ein alter Trottel. Aber Amazon bekommt von mir keinen Cent, solange der Konzern nicht gleich viel Steuern zahlt wie unsere Händler. (Verena Kainrath, 3.5.2021)