Stefan Brocza, Experte für Europarecht, geht in seinem Gastkommentar auf Medienspekulationen ein, wonach Kanzler Sebastian Kurz nach Brüssel wechseln könnte.

Kürzlich war es so weit: Die deutsche Tageszeitung Welt brachte Sebastian Kurz als künftigen Präsidenten der EU-Kommission in Stellung. In einem Kommentar wurde festgehalten, dass trotz all der Kontroversen, die Kurz rund um die angeblich falsche und ungerechte Impfstoffverteilung in Brüssel ausgelöst hat, "in ernst zu nehmenden Kreisen mittlerweile immer mal wieder der Name Kurz als neuer Kommissionspräsident im Jahr 2024" fallen würde. Gierig apportierten österreichische Medien das von der konservativen Springer-Presse geworfene Hölzchen. Das der türkisen Reichshälfte zugeneigte Boulevard-Onlinemedium Exxpress enthüllte auch gleich umgehend den "Zeitplan", mit dem Sebastian Kurz "in drei Jahren als neuer EU-Boss nach Brüssel" gehen würde.

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Auf dem Weg nach Brüssel – oder doch nicht? Kanzler Sebastian Kurz ist Thema an der Gerüchtebörse.
Foto: Reuters/Pool

Abgesehen davon, dass Kurz dementierte und als Kernelement dieses gefinkelten Zeitplans die offensichtlich bisher niemanden sonst aufgefallenen Tatsache enthüllt wurde, dass "die jetzige türkis-grüne Legislaturperiode im Jahr 2024 ausläuft, ungefähr zeitgleich endet auch die Funktionsperiode von Ursula von der Leyen". Und auch außer Acht lassend, dass die deutschsprachigen Medien Bild und Welt aus dem Hause Springer Sebastian Kurz schon lange durch dick und dünn folgen (und dies wohl auch eher als Dauerkritik an der Person der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sehen ist), muss man sich dennoch die Frage gefallen lassen, warum Österreichs Politik- und Medienlandschaft so völlig unreflektiert Gerüchte aufnimmt.

Nicht denkbar

Das Ganze erinnert ein wenig an Wolfgang Schüssel. Auch damals hielt sich (innerstaatlich) das hartnäckige Gerücht, Schüssel würde abwechselnd als kommender Kommissionspräsident oder eben als Ratspräsident nach Brüssel gerufen. Etwas anderes wäre gar nicht denkbar. Nun mag das einerseits mit einem notorischen nationalen Minderwertigkeitskomplex Österreichs zu erklären sein. Andererseits aber auch mit einer völlig widersinnigen Realitätswahrnehmung. Offensichtlich schaltet der nationale Hausverstand kollektiv ab, sobald auch nur irgendjemand behauptet, jemand aus Österreich "könnte etwas werden".

Dabei stellt sich die Frage nach der Ablösung von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin doch gar nicht. Sie mag nicht die ideale Besetzung sein, aber spätestens nach dem unsäglichen "Sofagate" in Ankara sitzt die mit allen politischen Wassern gewaschene ehemalige deutsche Verteidigungsministerin fester im EU-Sattel denn je. Warum also sollte so jemand 2024 nicht die Wiederwahl anstreben? Es gibt keinerlei Anzeichen auf Amtsmüdigkeit. Und vorausgesetzt, ihre politische Parteifamilie Europäischen Volkspartei gewinnt auch die nächsten Wahlen zum Europaparlament: Wer könnte, wer würde der ersten Frau an der Spitze der EU-Kommission eine zweite Amtsperiode verweigern?

Der Präsident der EU-Kommission wird bekanntlich vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament gewählt. Dabei wird das Ergebnis der Europawahl berücksichtigt. Und nachdem beim letzten Mal das politisch vereinbarte Spitzenkandidaten-Modell faktisch außer Kraft gesetzt wurde (bekanntlich wurde ja nicht der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber, sondern eben von der Leyen vom Europäischen Rat nominiert), wird das Europaparlament bei der Wahl 2024 wohl definitiv darauf bestehen, dass nur ein vorab nominierter Spitzenkandidat auch tatsächlich nächster Kommissionspräsident wird. Ursula von der Leyen hat sich zu diesem Modell bei ihrer Wahl 2019 verpflichtet.

Traum oder Albtraum?

Damit der österreichische (Alb-) Traum von Sebastian Kurz an der Spitze der Kommission wahr werden könnte, müsste der österreichische Bundeskanzler spätestens im Herbst 2023 von der Europäischen Volkspartei als ihr Spitzenkandidat nominiert werden. In der Folge müsste er den Bundeskanzlerposten zurücklegen und europaweiten Wahlkampf betreiben. Sollte er die Europawahlen gewinnen, müssten ihn seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Rat wie oben erwähnt nominieren.

Und spätestens hier – wenn nicht schon im EP-Wahlkampf – würde sich die Frage stellen, warum man jemanden wählen sollte, der die südlichen EU-Mitgliedstaaten als "Staaten, die in ihren Systemen kaputt sind", bezeichnet hat? Warum man jemanden nominieren sollte, der als Teil der "frugalen vier" nicht bereit war, Geld in die Hand zu nehmen, um die Ungleichheit zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu verringern? Warum jemanden an die Spitze der EU-Kommission setzen, der in seinem bisherigen politischen Schaffen Solidarität immer nur als Einbahnstraße in seine Richtung eingefordert hat?

Und man würde wohl auch den Gegenwind der europäischen Medienlandschaft zu spüren bekommen. Schon jetzt bezeichnet die englischsprachige EU-Wochenzeitung Politico (übrigens ebenfalls aus dem Hause Springer) Sebastian Kurz als "rogue operator". Spätestens dann wäre klar, dass das Spiel nicht aufgeht. Sebastian Kurz ist – ob man das nun will oder nicht – politisch dazu verdammt, in Österreich zu bleiben. (Stefan Brocza, 5.5.2021)