Der Fund einer zyprischen Scherbe in Tel Lachisch in Israel lieferte Hinweise auf eine frühalphabetische Inschrift.

Foto: ÖAW

Was macht eine große Erfindung aus? Je nach Forschungsgebiet fällt die Antwort auf diese Frage naturgemäß recht unterschiedlich aus. Für die Zeichenwissenschafterin Orly Goldwasser ist das Alphabet jedenfalls ein Beispiel für eine bahnbrechende Innovation — ein relativ reduziertes Zeichensystem, mit dem sich aber eine Unmenge an Wörtern bilden lassen, um komplexe Informationen zu transportieren.

Bei einem Vortrag des Forschungszentrums für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gab Goldwasser, Professorin für Ägyptologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem, zuletzt Einblicke in die Ursprünge des Alphabets..

Verwandtschaft mit Hieroglyphen

Goldwasser war unter anderem an der Harvard-Universität und am Collège de France tätig. Bekannt wurde sie durch die Entdeckung des Klassifikationssystems in der Hieroglyphenschrift, was die Rekonstruktion des altägyptischen Begriffssystems ermöglichte.

Die Ursprünge jenes Zeichensystems, das wir bis heute nutzen, reichen erheblich weiter zurück, als es der Begriff vordergründig vermuten lässt: Die griechischen Buchstaben Alpha und Beta, aus denen sich der Begriff Alphabet vermeintlich zusammensetzt, sind nämlich selbst bereits Übertragungen: Die Namen der beiden Zeichen leiten sich von den westsemitischen Wörtern Aleph ("Ochse") und Bet ("Haus") ab und beschreiben das Aussehen der ursprünglichen Symbole, was auf ihre Verwandtschaft mit den ägyptischen Hieroglyphen verweist.

Orly Goldwasser ist Professorin für Ägyptologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
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Einfache Symbole

"Dieses System wurde um 1840 vor Christus auf der Halbinsel von Sinai erfunden", berichtet Goldwasser. Von hier stammen die bislang ältesten gefundenen Artefakte, auf denen diese Symbole zu sehen sind.

Laut ihrer Forschung haben sich das Alphabet aber keineswegs Gelehrte ausgedacht: Die bedienten sich nämlich eben jenes komplexen ägyptischen Hieroglyphensystems — vermutlich auch, um die Macht, die dieses Wissen bedeutete, für die herrschende Elite zu sichern.

Verbindung mit Tönen

Die in der Region tätigen kanaanitischen Arbeiter, die in den Türkisminen der Pharaonen gruben, waren mit diesen für sie unverständlichen Zeichen dennoch ständig konfrontiert. Und obwohl sie eigentlich nur über eine geringe Bildung verfügten, ließen sie sich davon zu einem Zeichensystem inspirieren, das die Hieroglyphenschrift zwar auf den ersten Blick imitierte, das aber insgesamt lediglich nur aus rund 30 Symbolen bestand und dem ein einfaches Lesesystem zugrunde lag.

Der Clou dabei: Die Regeln dieses Systems waren unmittelbar mit Sprachtönen verbunden: "Das Symbol zieht nun eine direkte Linie vom Zeichen zum Ton. Anstatt der drei semiotischen Optionen, die man beim Lesen einer ägyptischen Hieroglyphe hat, erzeugt diese Erfindung eine direkte Linie zwischen Symbol und Klang. Es gibt hier nur eine Regel: Identifiziere das Bild. Benenne es im Kanaanitischen. Verwende den ersten Silbenklang."

In Tel Lachisch in Israel wurde ein archäologischer Fund gemacht, der Rückschlüsse auf die Ursprünge des Alphabets zulässt.
Foto: ÖAW

Damit war das grundsätzliche Alphabetprinzip, wie es heute in vielen Sprachen abgewandelt verwendet wird, geboren. "Diese einfachen kanaanitischen Minenarbeiter sind unsere Helden von heute", befindet Goldwasser daher. Dass dieses revolutionäre System erst auf wenig offizielles Interesse stieß, dann aber umso wirkmächtiger seinen Einfluss ausübte, mache das Alphabet zudem zu einem Beispiel für eine disruptive Innovation.

Auch in Israel hat sich Goldwasser schon mit fachfremden Forschern über ihre These ausgetauscht: Naturwissenschafter des Weizmann-Instituts für Wissenschaften in Rechovot wollten von ihr wissen, ob diese Theorie falsifizierbar sei. "Natürlich ist das möglich — ein älterer Fund an einem anderen Ort könnte das widerlegen."

Missing Link gefunden

Zur Stützung ihrer These bekam Goldwasser aber vor wenigen Wochen Hilfe von österreichischen Archäologen: Ein vom Wissenschaftsfonds FWF finanziertes Forscherteam des Österreichischen Archäologischen Instituts (ÖAI) der ÖAW fand in Tel Lachisch, rund 40 Kilometer von Jerusalem entfernt, eine Keramik mit Zeichen, denen ein Alphabetsystem zugrunde liegt und das durch seine Datierung die Verbreitung von Sinai aus weiter plausibel macht: Bislang fehlten auf dieser Spur mehrere Jahrhunderte.

Damit ist nun aber ein weiteres "Missing Link" vom Siegeszug des Alphabets gefunden. (Johannes Lau, 10.5.2021)