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Kinder brauchen keine Richter, die für sie den Streit entscheiden, aber sie brauchen das Handwerkszeug, um eigenständig Konflikte zu führen.

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Der Bruder schnappt sich das Spielzeug, mit dem sich die Schwester gerade beschäftigt. Sie wird wild, tobt und zerstört seine Zeichnungen. Wütend geht er zu Mama und Papa und beschwert sich. Eltern mit zwei oder mehr Kindern kennen das Szenario. Sie wissen, wie eine Situation eskalieren kann, wenn sich Geschwister uneins sind. Gerade während der Corona-Krise haben laut Umfragen Streitigkeiten in der Familie zugenommen.

Zunächst ist zu sagen, dass es etwas ganz Natürliches ist, dass es zwischen Geschwistern immer wieder zu Streit kommt. Streit gehört zur normalen kindlichen Entwicklung dazu. Kinder lernen dabei, wie sie Konflikte lösen können, idealerweise gewaltfrei und lösungsorientiert. Mit Geschwistern lernen sie das zu Hause, später dann im Kindergarten. Eltern müssen auch nicht in jedem kleinen Streit vermitteln, und je jünger Kinder sind, desto kürzer sind solche Konfliktsituationen meist.

Streitgeplagte Eltern können sich auch in Erinnerung rufen: Mit Geschwistern aufzuwachsen kann ein großer Vorteil für das spätere Leben sein. Denn das Kind macht schon in den ersten Lebensjahren soziale Erfahrungen. Ganz im Unterschied zum Beispiel zu Einzelkindern. Hier sorgen zwar Eltern oft auch schon von klein auf für Sozialkontakte mit etwa gleichaltrigen Kindern, jedoch sind diese in Hinblick auf die zeitliche Verfügbarkeit und die Bindungsebene nicht mit Geschwisterbeziehungen zu vergleichen. Geschwisterbeziehungen zählen ohnedies zu den längsten, beständigsten und intensivsten Bindungen des Lebens. Sie überdauern meist die Beziehung zu Eltern, Freundinnen und Freunden sowie auch zum Lebenspartner oder der Lebenspartnerin.

Konkurrenz um Aufmerksamkeit

Aber natürlich können Zankereien unter Geschwistern sehr an den Nerven zehren. Konflikte entzünden sich an ganz unterschiedlichen Fragen: Wer darf zuerst das Spielzeug haben? Wer kann etwas besser oder schöner? Wer darf das Spiel aussuchen? Wer bekommt zuerst eine Geschichte vorgelesen? In jedem Alter stehen andere Bedürfnisse und daher auch andere Streitthemen im Vordergrund. Konflikte zwischen Geschwistern sind oft auch emotionsgeladener als unter Freundinnen und Freunden und anderen Spielkameraden. Der Grund ist, dass mit ihnen nicht nur Raum und Besitz, sondern auch die elterliche Aufmerksamkeit geteilt werden muss.

Im Moment verbringen Geschwister wahrscheinlich vielerorts mehr Zeit miteinander, als sie das gewohnt sind. Es gibt weniger Angebote, Freundinnen und Freunde werden seltener getroffen, und auch Kindergarten- und Schulbesuche sind unregelmäßiger als sonst. Familien müssen sich immer wieder auf neue Situationen einstellen, Rituale und Tagesabläufe neu organisieren. Es ist mit Sicherheit eine herausfordernde Zeit. Kein Wunder, dass es vermehrt zu Konflikten kommt. Aber wie gehen Eltern in Streitsituationen am besten vor?

Verständnis ist wichtig

Vorauszuschicken ist, dass Eltern einen großen Einfluss auf die Beziehung unter den Geschwistern haben. Ob hier eine positive oder negative Dynamik entsteht, kann von ihnen mit beeinflusst werden. Nicht zu unterschätzen ist die eigene Vorbildwirkung. Wie Eltern sich im Streit begegnen, hat Auswirkungen auf die Kinder. Es gilt daher zuallererst über das eigene Konfliktverhalten zu reflektieren: Wie reagiert man selbst bei einem Konflikt? Wie geht man vor, um den Konflikt zu lösen? Wird man laut? Und dann gegebenenfalls etwas am eigenen Verhalten zu ändern.

Außerdem ist es sinnvoll, jedem Kind exklusive Mama- und Papazeiten anzubieten, in denen es ungeteilte Aufmerksamkeit bekommt. Denn um diese Aufmerksamkeit konkurrieren die Geschwister.
Auch wenn Vergleiche zwischen den Kindern oftmals automatisch passieren, sollte behutsam damit umgegangen werden. So könnte beispielsweise jedes Kind einzeln hervorgehoben und angesprochen werden, was gerade gut läuft oder welches Verhalten den Eltern im Moment Schwierigkeiten bereitet.

In Streitsituationen ist vor allem eines wichtig: Verständnis. Wut, Ärger, sich ungerecht behandelt zu fühlen und traurig zu sein – all das sind Gefühle, die ihre Berechtigung haben und auch zum Ausdruck kommen dürfen. Die Frage stellt sich im Wie. Natürlich ist es nicht in Ordnung, einander körperlich anzugreifen. Hier ist es wichtig, Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, um diese angestaute Energie abzubauen. Bedeutend dabei ist auch, dass dem Kind signalisiert wird, dass man es weiterhin liebt und in seinen Gefühlen unterstützt.

Gerade wenn Kinder viel um bestimmte Spielsachen streiten, kann es auch hilfreich sein, von besonders interessanten Spielsachen zwei Exemplare zu haben oder klare Abmachungen zuvor zu treffen, wer mit welchen Spielzeug spielt und wann getauscht wird.

Bei Konflikten begleiten

Wichtig ist zudem, die Kinder mit ihren Konflikten nicht alleinzulassen. Der Umgang damit muss erlernt werden, wie das Schuhebinden. Kinder brauchen Begleitung durch das Wirrwarr an Gefühlen, dem sie häufig in Streitsituationen begegnen, und sie benötigen Hilfe auf dem Weg zu einer Lösung. Wie das konkret aussehen kann?

Zuallererst geht es um das Benennen des Gefühls, das die Situation in einem Kind ausgelöst hat. Eltern können ihren Kindern helfen, Worte zu finden. Oft kann das Aussprechen von Gefühlen zu Erleichterung führen. Also zu sagen: "Ich bin traurig, weil ich mit dem roten Auto spielen wollte" oder "Ich bin wütend, weil meine Schwester / mein Bruder meinen Turm zerstört hat".

Kinder benötigen außerdem die Möglichkeit, Anspannungen abzubauen. Häufig ist es hilfreich, die Wut rauszustampfen, alte Zeitungen zu zerreißen, einen Stressball zu kneten oder in einen Polster zu boxen. Kuscheltiere und kleine "Sorgenfresserchen" können helfen, mit der Traurigkeit umzugehen. Auch für uns Erwachsene sind Gespräche mit dem Partner oder der Partnerin, die wutgeladen sind, meist nicht zielführend. So ist es auch bei den Kindern.

Eltern können dann helfen, die kindlichen Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken und auszusprechen. Es sollte dabei darauf geachtet werden, dass die Kinder abwechselnd zu Wort kommen und dass jeder ausreden darf.

Kinder brauchen keine Richter

Eltern können ihre Kinder einladen, eigene Ideen für die Problemlösung zu finden. Zum Bespiel "Was wollt ihr jetzt tun?". Sie benötigen Unterstützung und Anleitung, um gemeinsame Lösung zu finden. Dabei ist es aber nicht notwendig, dass Eltern selbst die geäußerte Lösung als die beste erachten, sondern dass die Kinder mit ihrer Lösung zufrieden sind. Gerne können natürlich auch die Bezugspersonen Vorschläge einbringen. Dies können auch kreative und lustige Ideen sein.

Diese Lösung könnte dann auch mit einem Handschlag oder zum Beispiel einem Tanz "besiegelt" werden. Man kann diesen Prozess zu einem einzigartigen und lustbesetzten machen. Den Kindern wird es mehr und mehr Spaß machen, sich selbst zu beteiligen.

Kinder brauchen also keine Richter, die für sie den Streit entscheiden, aber sie brauchen Hilfe und Unterstützung, um das Handwerkszeug zu erlernen, eigenständig Konflikte zu führen. Je mehr Ihre Kinder schon gelernt haben, desto weniger werden diese auf Sie angewiesen sein und immer selbstständiger ihre Lösungen finden.

Es gibt außerdem eine wichtige Fähigkeit, die beim Streiten erlernt wird: die Frustrationstoleranz, also zu lernen, mit Frust und Enttäuschung umzugehen. Dies ist eine Fähigkeit, die sehr wichtig für die spätere Entwicklung ist. Sie bedingt zum Beispiel unseren Lernerfolg, wie gut wir im Leben mit Rückschlägen umgehen können und wie empathisch wir sind.

Um zu sozialen Erwachsenen zu werden, brauchen Kinder vor allem eines: andere Kinder. Und das führt unweigerlich zu Konflikten. In diesen können sie sich ausprobieren und ihre Fähigkeiten für ihr weiteres Leben in unserer Gesellschaft erproben. (Patricia Zaccarini, 11.5.2021)