Das Klimasystem der Erde ist hochkomplex, viele Zusammenhänge sind noch weitgehend unverstanden. Doch die Modelle und Prognosen werden immer genauer, die Datenlage dank Satellitenbeobachtung und terrestrischen Messungen wird immer dichter. Leider bestätigen die meisten dieser neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse nur, was sich ohnehin schon länger abzuzeichnen scheint: Die bisher beschlossenen Maßnahmen gegen die Erderwärmung werden nicht ausreichen, wenn wir das 2015 im UN-Sonderbericht des Weltklimarats gesetzte Ziel erreichen wollen.

Eine Begrenzung des durchschnittlichen Temperaturabstieg um 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau scheint immer unwahrscheinlicher. Dabei hätte ein Erfolg in dieser Hinsicht durchaus spürbare Konsequenzen: Könnte man die Klimaziele tatsächlich einhalten, würde sich das Abschmelzen der Gletscher an den Polen deutlich verlangsamen. Das könnte den prognostizierten Anstieg des Meeresspiegels praktisch halbieren, berichtet ein internationales Forscherteam.

Ein schrumpfender Eisberg im in Sermilik Fjord, Südostgrönland.
Foto: Donald Slater

Selbst im günstigsten Fall 2,0 Grad Celsius

Aber eine dieser Tage im Rahmen einer hochrangigen internationalen Klimakonferenz vorgestellte Studie gibt einmal mehr kaum Grund für Optimismus: Selbst wenn alle bisher vereinbarten Klimaschutzmaßnahmen so umgesetzt werden wie geplant, wird die globale Erderwärmung Ende des Jahrhunderts bei 2,4 Grad liegen – und damit deutlich über dem 1,5-Grad-Ziel. So lautet das Ergebnis aktuellster Prognosen des Analyseprojekts Climate Action Tracker (CAT), das der Klimaforscher Niklas Höhne in Berlin vorgestellt hat.

Höhne präsentierte die neuesten Projektionen beim 12. Petersberger Klimadialog: Demnach sei man mit den bestehenden Plänen noch nicht in der Lage, die globale Erderwärmung auf das gewünschte Maß zu reduzieren. Wenn von nun an auch keine weiteren Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels getroffen würden, läge die prognostizierte Temperatur im Jahr 2100 sogar bei 2,9 Grad. In einem "optimistischen Szenario" mit weitreichenden Emissionsreduktionsmaßnahmen betrüge die Erwärmung den Berechnungen zufolge 2,0 Grad.

Die geplanten Emissionsverringerungen werden nicht reichen.
Grafik: Climate Action Tracker

Halbierung der Emissionen bis 2023

131 Staaten hätten sich aktuell Ziele gesetzt, um klimaneutral zu werden, erklärte Höhne. Das decke 73 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen ab und sei eine "eindeutig kritische Masse". Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens aus dem Jahr 2015 jedoch voll zu erfüllen, müsste der Temperaturanstieg bis Ende des Jahrhunderts maximal 1,5 Grad betragen. Dafür müssten nach den Erkenntnissen auf Basis des Climate Action Trackers bis 2030 alle globalen Emissionen halbiert werden.

Derzeit sehe es aber nicht danach aus, sagte Höhne, auch wenn es "physikalisch und technisch" möglich wäre. "Es klafft eine gigantische Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit."

Erfreulich sei, dass sich Staaten wie die USA, Großbritannien oder Argentinien ambitioniertere Klimaziele gesetzt hätten. Andere wiederum, unter anderem Australien und Brasilien, würden hinter den Erwartungen deutlich zurückbleiben. Ausreichende kurzfristige Reduktionsziele habe sich bisher kein einziges Land gesetzt, bilanzierte der Wissenschafter.

Das Climate Action Tracker-Thermometer zeigt die prognostizierten Auswirkungen auf den Temperaturanstieg bis 2100, basierend auf Zusagen und Zielen, aktuellen Richtlinien und den Szenarien für optimistische Ziele.
Grafik: Climate Action Tracker

Gebremster Eisverlust

In dem unwahrscheinlichen Fall, dass es uns doch gelingen sollte, die Klimaziele einzuhalten, könnten die polaren Eismassen und damit auch die Küstenbewohner der Erde unmittelbar profitieren. Wie ein internationales Forscherteam nun im Fachjournal "Nature" schreibt, würden sich bei einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad Celsius bis 2100 die Verluste des grönländischen Eisschildes um 70 Prozent und jene der Gletscher um die Hälfte reduzieren.

Das Abschmelzen der Polkappen ist derzeit für etwa die Hälfte des globalen Meeresspiegelanstiegs verantwortlich, der Rest entsteht durch die Ausdehnung des erwärmten Wassers. Ein Team von 80 internationalen Forschern hat nun in bisher unerreichter Genauigkeit den künftigen Anstieg des Meeresspiegels unter Berücksichtigung verschiedener Szenarien modelliert.

Gebirgsgletscher-Modelle aus Österreich

Sie kombinierten dazu unterschiedliche Computermodelle mit statistischen Methoden, um Datengrundlagen für den kommenden sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarates (IPCC) bereitzustellen. Der Innsbrucker Glaziologe Fabien Maussion steuerte dazu Projektionen der potenziellen Veränderungen der Gebirgsgletscher bei, basierend auf einem an der Uni entwickelten Gletscherentwicklungsmodell.

"Würden wir bei den aktuellen Emissionszusagen der Länder bleiben, würde das Meeresspiegel wahrscheinlich um 25 Zentimeter steigen", erklärte Maussion. "Wenn wir aber die globale Erwärmung um 1,5 Grad Celsius begrenzen, macht der Anstieg wahrscheinlich nur 13 Zentimeter, also rund die Hälfte, aus", so der Wissenschafter. Die Verluste des grönländischen Eisschildes würden sich dann im Vergleich zur Entwicklung nach den aktuellen Emissionszusagen bis zum Ende des Jahrhunderts um 70 Prozent und die der Gletscher um die Hälfte reduzieren.

Berücksichtigt man auch die Unsicherheitsbereiche, die in solchen Prognosen immer angegeben werden, beträgt bei einer 1,5-Grad-Begrenzung die Wahrscheinlichkeit eines Meeresspiegelanstiegs von höchstens 28 Zentimetern 95 Prozent. Bleibt man dagegen bei den aktuellen Zusagen der Länder liegt das obere Limit des Unsicherheitsbereichs bei einem Anstieg von 40 Zentimetern.

Video: Die Animation zeigt je nach Szenario die Geschwindigkeit, mit der sich die Eisdicke in Metern pro Jahr ändert (mehr Rot bzw. Gelb bedeutet schnelleren Eisverlust).
NPG Press

Unsichere Entwicklung in der Antarktis

Großer Unsicherheiten gibt es bei der weiteren Entwicklung in der Antarktis. Für diese sind die Vorhersagen für die unterschiedlichen Emissionsszenarien gleich, weil derzeit noch unklar ist, ob der Schneefall im kalten Inneren des Kontinents das Schmelzen an den Küsten ausgleicht. Sollte aber das pessimistische Szenario Realität werden, das mit viel mehr Schmelze als Schneefall rechnet, könnten die Eisverluste in der Antarktis fünfmal größer ausfallen.

In einer zweiten, ebenfalls in "Nature" veröffentlichten Studie kommt ein Team um Robert DeConto von der University of Massachusetts Amherst (USA) zum Schluss, dass bei einer Erwärmung von 3 Grad Celsius bis 2100 – das ist jener Erwärmungspfad, der mit den derzeitigen Emissionen fossiler Brennstoffe übereinstimmt – die Geschwindigkeit des Eisverlusts in der Antarktis ab 2060 erheblich zunimmt und bis zum Ende des Jahrhunderts einen Anstieg des Meeresspiegels um 0,5 Zentimeter pro Jahr auslöst.

"Der globale Meeresspiegel wird weiter ansteigen, selbst wenn wir jetzt alle Emissionen stoppen, aber unsere Untersuchung legt nahe, dass wir den Schaden begrenzen könnten", erklärte die Hauptautorin der Arbeit, Tamsin Edwards, vom King's College London. Sie verweist auf die im November geplante UN-Klimakonferenz, für die viele Nationen ihre Zusagen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen aktualisieren.

Jedes Zehntelgrad zählt

Für Maussion beinhaltet die Studie eine "unmissverständliche Botschaft: Es ist enorm wichtig, die Erwärmung zu begrenzen, um Küstenregionen zu schützen". Zudem sei der Anstieg des Meeresspiegels nicht die einzige Folge. "Das Abschmelzen der Gletscher wirkt sich auch auf die Süßwasserressourcen in vielen vergletscherten Becken aus und erhöht die Risiken von Erdrutschen und Überschwemmungen. Jedes Zehntelgrad zählt und macht einen Unterschied für künftige Generationen", so Maussion. (red, APA, 6.5.2021)