Nach mehr als einem Jahr kann man leicht vergessen, dass es ein Grundrecht ist, jederzeit das eigene Haus verlassen, andere Menschen treffen und Dienstleistungen ohne Auflagen in Anspruch nehmen zu dürfen – und dass die jetzigen Einschränkungen nur in einer medizinischen Notlage vertretbar sind. Deshalb wäre es selbstverständlich, dass jene Menschen, von denen dank der Corona-Impfung kaum noch eine Ansteckungsgefahr ausgeht, möglichst bald zu diesem Normalzustand zurückkehren können. Hier von einem Privileg für Geimpfte zu sprechen ist irreführend.

Spätestens im Sommer aber sollte in Österreich ein Zustand erreicht sein, in dem jeder über 16 geimpft ist, der es will.
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Allerdings ist dabei von der Politik Augenmaß verlangt. Solange Millionen Bürgerinnen und Bürger sehnsüchtig auf ihren Impftermin warten, muss die Spaltung der Gesellschaft in zwei Gruppen mit unterschiedlichen Rechten vermieden werden. Daher ist es richtig, dass die Regierung für den nationalen grünen Pass Geimpfte mit Getesteten und Genesenen gleichstellt – und von einem ausreichenden Impfschutz schon drei Wochen nach dem ersten Stich ausgeht. Die deutsche Regelung, die Lockerungen erst ab der vollständigen Immunisierung vorsieht, ist übertrieben vorsichtig – eine Erstimpfung gibt bald mehr Sicherheit als ein einmaliger Antigentest oder eine überstandene Infektion – und diskriminiert jene, die mit Astra Zeneca geimpft wurden und nun zwölf Wochen auf die zweite Impfung warten müssen.

Auch müssen die Freiheiten dort eingeschränkt bleiben, wo der Impfstatus nicht offensichtlich ist. Wird ein Teil der Bevölkerung von der Maskenpflicht, etwa im Supermarkt oder in der U-Bahn, ausgenommen, dann werden sich auch andere nicht mehr an diese Vorschriften halten. Von Geimpften weiterhin einen Test vor dem Friseurbesuch oder dem Betreten eines Lokals zu verlangen ist hingegen überflüssig.

Corona-bedingte Einschränkungen

Spätestens im Sommer aber sollte in Österreich ein Zustand erreicht sein, in dem jeder über 16 geimpft ist, der es will. Ab diesem Zeitpunkt existiert für Geimpfte kein Grund mehr, Corona-bedingte Einschränkungen im täglichen Leben zu akzeptieren. Und dann ist auch das Entstehen einer Zweiklassengesellschaft unbedenklich. Wer sich nicht impfen lassen will, tut dies ja freiwillig. Abseits gesetzlicher Regelungen ist auch zu erwarten, dass private Unternehmen – vom Kino bis zur Fluglinie – einen Impfnachweis von ihren Kunden verlangen werden, um dadurch andere zu schützen. Das Recht dazu müssen sie haben.

Klare Vorrechte für Geimpfte hätten auch den Vorteil, dass sie Impfskeptiker dazu bringen können, ihre Zweifel zu überwinden und sich stechen zu lassen. Das wird notwendig sein, um jene Herdenimmunität zu erreichen, bei der die gesamte Bevölkerung geschützt ist – auch jene, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können. Wer darin eine Impfpflicht durch die Hintertür sieht, hat nicht ganz unrecht. Aber es muss unbedingt verhindert werden, dass eine wissenschaftlich unbegründete Impfskepsis die öffentliche Gesundheit gefährdet.

Dieser Zustand kann noch viele Jahre dauern, da zur effektiven Eindämmung der Pandemie wohl regelmäßige Auffrischungen notwendig sein werden. Erst wenn dies nachhaltig gelingt, wird die Covid-Impfung zur Privatsache. Wer ungeimpft durchs Leben geht, gefährdet sich dann nur noch selbst. Und auch diese Freiheit gehört zu den Grundrechten. (Eric Frey, 6.5.2021)