Um zur Elite der Raga-Musiker aufzusteigen, braucht es mehr als Talent: Chaitanya Tamhanes hypnotisches Musikerdrama läuft jetzt auf Netflix.

Foto: Netflix

Der Meister und sein Schüler sitzen nahe beisammen, doch zwischen ihnen liegt der Abstand zwischen echter Könnerschaft und purer Ambition. Während der Blick des Sängers vollkommen in der eigenen Darbietung versunken erscheint, klebt jener von Sharad (Aditya Modal) geradezu glühend auf seinem Vorbild. Das ist einerseits der Ordnung des Raga geschuldet, dieser indischen Gesangskunst, die eine enge Abstimmung der Gruppe erfordert. Zugleich zeigt Chaitanya Tamhane mit dieser frühen Szene von The Disciple(Der Schüler) schon die enge, ungesunde Verbindung auf, die das ungewöhnliche Drama dieses Films bestimmt.

Netflix

Guruchi (Arun Dravid) ist ein erfahrener Mentor und Guru des idealistischen jungen Mannes, der sich nichts sehnlicher wünscht, als selbst in die Königsklasse der hinduistisch geprägten Musik aufzusteigen. Ein Ziel, das nur mit strenger Disziplin, großer Hingabe und unter Verzicht auf weltliche Ablenkungen zu haben ist. Und damit nicht genug: Talent allein genügt nicht. Um zu reüssieren, braucht es ein Zusammenwirken von schwer berechenbaren Kräften, auch der Glaube an die edle Herkunft der Musik reicht da nicht aus.

The Disciple widersetzt sich der Regel gängiger filmischer Musikerbiografien, die auf das Pathos des Durchbruchs zulaufen, auf jenen feierlichen Moment, in dem alle Mühen und Anstrengungen (mitsamt den dazwischenliegenden Niederlagen) am Ende belohnt werden. Statt des kontinuierlichen Fortschritts stellt sich hier, sobald sich die kleinen Rückschläge häufen, irgendwann Stasis ein. Nicht vom Aufstieg erzählt dieser Film, sondern vom Verschleiß und damit von der langsamen Erosion eines Wunschbilds, von dem nur noch die äußeren Halterungen aus der Vergangenheit übrig bleiben.

Sinn für Widersprüche

Als 34-jähriger Filmemacher, für den sich der Starregisseur Alfonso Cuarón (Roma) aus Begeisterung als Executive Producer zur Verfügung stellte, ist Tamhane selbst weit entfernt vom Schicksal eines Künstlers, der mit dem Zeitgeist nicht Schritt halten kann. Seit seinem Gerichtsdrama Court (2014) gilt er als eines der großen Talente im Weltkino. Auf dem Festival von Venedig wurde er für The Disciple mit dem Drehbuchpreis prämiert, das war vielen noch zu wenig – nun hat den Film Netflix im Vertrieb, wohl auch, um Tamhane für eigene Produktionen zu gewinnen.

The Disciple nimmt aber nicht nur eine sich im Mittelfeld verlaufende Karriere in den Blick. Das Künstlermilieu wird in dem tonal ganz wandelbaren Drama auch zum Spiegel für die kulturellen Umbrüche Indiens, die sich in der schwindenden Bedeutung von Tradition, unter dem Druck eines globalen Marktes, auch in der Rezeption und Archivierungsweisen abzeichnen. Je öfter Sharad auf dem Motorrad mit Kopfhörern durch die nächtlichen Straßen von Mumbai fährt und dabei die religiös wirkenden Gebote zur Enthaltsamkeit einer bewunderten Sängerin zu verinnerlichen versucht, desto mehr wirkt er der Gegenwart entrückt. Andere, zeitgenössische Mischformen der Musik entstehen, deren Vertreter rasantere Karrieren hinlegen, parallel dazu wuchern die Foren, in denen sich Fans direkter über ihre Vorlieben austauschen.

Schmerzlich komisch

In einer schmerzlich komischen Szene des Films surft Sharad sein eigenes Youtube-Video an, um seine Popularität zu überprüfen, und sieht sich mit niederschmetternden Postings konfrontiert. Die Gläubigen ernten keinen Lohn für ihre reine Lehre, das macht Tamhane mitunter humorvoll klar. Möglicherweise sind Sharads Vorbilder schon Schimären gewesen: Ein Musikkritiker geht mit dessen romantisierendem Blick auf die eigenen Heroen hart ins Gericht und meint, diese hätten ihren Ansprüchen nicht einmal selbst genügt.

The Disciple ist die Arbeit eines Filmemachers, der Sensibilität für die unterschiedlichen Geschwindigkeiten einer Gesellschaft beweist. Trotz seiner offensichtlichen Sympathie für analoge Kulturtechniken verzettelt er sich in keiner Nostalgie. Bemerkenswert ist die Präzision, mit der Tamhane auf kulturelle Praktiken blickt, ohne deren überholtes Machtgefälle zu beschönigen. Das Verhältnis zwischen dem Meister und seinem Schüler, das dem Auszubildenden ein kaum zu bewältigendes Maß an privaten Pflichten aufbürdet, ist eines davon.

Dass Sharad die Bewunderung klassischer Musik einst von seinem Vater eingetrichtert wurde, mag man als ersten Beleg eines Irrtums sehen. Doch der Irrtum ist The Disciple in anderer Hinsicht heilig. Man kann ihn als Auftakt zu einem mühevollen Weg in die Selbsterkenntnis verstehen, zu dem eben auch Scheitern gehört. (Dominik Kamalzadeh, 6.5.2021)