Viel und lange haben Menschen über das Wesen ihrer Existenz nachgedacht. Das begann bei den alten Ägyptern, zog sich hin über Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, Kierkegaard bis zu Sartre, der das Sein mit dem Nichts konfrontierte, als Reaktion auf Heideggers einigermaßen komplexe Aufdröselung des Erkenntnisgegenstandes in das Sein, das etwas banalere Seiende oder das mysteriöse Seyn. Ob Nazi, Kommunist oder Heiliger, allen war das Nachdenken über das Sein ein aufwendiger Zeitvertreib, und sie waren nicht die Letzten. Das war auch nicht unser Bundespräsident, als er mit der philosophischen Autorität eines Staatsoberhauptes der Nation die patriotische Differenzialdiagnose spendierte: So sind wir nicht!

Das war der philosophiegeschichtliche Moment, in dem Millionen Österreicher vom Walsertal bis ins Waldviertel der Gedanke durchfuhr, Sartre habe doch nicht vergeblich gelebt. Was uns zu der vorläufig letzten Behandlung der Seinsfrage führt, ausgeübt vom Verband Österreichischer Zeitungen und seiner Mitglieder, kurz VÖZ. Der hat dieser Tage die Ausschmückung der Tageszeitungen mit der Frage "Was wäre, wenn es nur eine Meinung gäbe?" veranlasst, ergänzt um die Behauptung, Demokratie brauche Meinungsvielfalt und Pressefreiheit, was in der ontologischen Enthüllung gipfelte: "Du bist, was du liest."

Sollte das zutrauliche Du dieser Diagnose die Konsumenten beruhigen und davon abhalten, angesichts der hiesigen Medienpolitik im allgemeinen und des heimischen Boulevards im Besonderen in selbstquälerisches Grübeln zu verfallen, womöglich bis zu Zweifeln an einer sinnvollen Existenz? Du bist, was du liest? Aber hallo, bin ich ein Michael Jeannée, wenn ich die Kronen Zeitung lese? So bin ich nicht, werden sich manche mit Van der Bellen trösten, andere aber könnten an der Personalunion mit ihren Lesefrüchtchen Gefallen finden. Wie nun, VÖZ?

Der Verband Österreichischer Zeitungen setzte zum Internationalen Tag der Pressefreiheit ein Zeichen für Meinungsvielfalt.
Foto: VÖZ

Schärfer stellt sich die Frage "Existenz durch Lektüre?" für jene, die schon einmal versuchten, ihr Sein mit einer journalistischen Befingerübung Wolfgang Fellners gratis aufzufetten. Nur weil ihm einmal gegenüber einer Mitarbeiterin das N-Wort herausgerutscht sein könnte, müssen seine Leser keinen Harvey in sich spüren. Noch nicht.

Und damit sind die wesentlicheren Fragen zur Existenz von Medien unter österreichischen Seinsbedingungen noch gar nicht gestellt. Von offizieller Seite, also von der, die den Boulevard zum Wohle des eigenen Seins mit Millionen besticht, konnte und kann man gelegentlich hören, Österreich wäre eine in 75 Jahren gereifte und gefestigte Demokratie. Sollte das stimmen – wieso müssen dann der Verband der Zeitungen und seine Mitglieder jetzt daran erinnern, dass Demokratie Meinungsvielfalt und Pressefreiheit brauche? Wie kann es dann sein, dass auf einer internationalen Skala zur Pressefreiheit Österreich gerade Platz 17 einnimmt und damit näher bei Orbáns Ungarn als bei demokratischer Zivilisation liegt?

Die Erinnerung des VÖZ an demokratische Prinzipien ist nicht in die Luft gesprochen, sie ist adressiert. Adressiert an eine Regierung, die glaubt, ihr Sein an deren Gegenteil binden zu müssen, an Erlaubnis zum Lügen, wo Wahrheit Pflicht wäre, und an Kontrolle der Message. Sie kann nicht sagen: So sind wir nicht. (Günter Traxler, 5.5.2021)