In der Türkei leben rund 50.000 Uigurinnen und Uiguren. Immer wieder protestieren sie gegen die Verfolgung, die ihre Angehörigen in China erleben – aber auch gegen die türkische Regierung, die dazu schweigt.

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Ömer Faruk ist ein ernster Mann mit gerader Körperhaltung und klarer Stimme. Er sitzt in seinem ungeheizten Laden im Istanbuler Stadtteil Sefarkoy, in dem er uigurische Bücher und Kinderspielzeug verkauft. Das Geschäft mit den Büchern sei mehr Kulturarbeit, sagt er, deswegen sei er vor kurzem auch in den Gebrauchtwagenhandel eingestiegen.

Sefarkoy liegt weit im Westen der 16-Millionen-Metropole, noch hinter dem mittlerweile stillgelegten Atatürk-Flughafen. Von der Romantik des Bosporus ist hier nichts zu spüren. Die einzige architektonische Abwechslung unter den unzähligen Mietskasernen ist alle paar Hundert Meter eine Moschee. Die Stadtteile Sefarkoy und Zeytinburnu sind Heimat der uigurischen Exilgemeinde in Istanbul.

Faruk (31) hat sich vorbereitet, er hat Bilder seiner Mutter im Rollstuhl und die Babyfotos von zweien seiner Töchter mitgebracht. Er macht auch auf Twitter auf seine Situation aufmerksam und hat schon öfter mit ausländischen Medien gesprochen.

Kontakt abgerissen

2012 war er mit seinem Vater aus der autonomen Region Xinjiang in China auf Pilgerreise nach Mekka aufgebrochen. Sein Vater starb dort, Faruk blieb länger und lernte Arabisch. Er kehrte nach Xinjiang zurück, heiratete und wurde Vater von vier Töchtern, ging nach Saudi-Arabien, um zu arbeiten. 2016 erhielt er einen Anruf seiner Frau: Die chinesische Polizei sei gekommen, um ihre Pässe einzuziehen. Faruk riet seiner Frau, die Behörden hinzuhalten und einen Flug mit den beiden älteren Kindern in die Türkei zu buchen.

Die anderen beiden Töchter, sie waren damals ein und drei Jahre alt, blieben bei der Schwiegermutter, sie wurde kurz darauf in ein Lager inhaftiert. Seitdem ist der Kontakt völlig abgerissen: "Meine Mutter und meine Geschwister löschten mich bei Wechat", erzählt er. "Sie mussten das tun, um sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Ich gelte in China vermutlich als Terrorist."

Faruk stammt aus einer verhältnismäßig wohlhabenden Familie. "Man bemerkte schon, dass sich so um das Jahr 2016 etwas veränderte. Uiguren mussten plötzlich eine Erlaubnis beantragen, wenn sie von einem Dorf ins nächste wollten. Aber weil wir wohlhabend waren, betraf uns das nicht so." Faruk zeigt Bilder von seinen Brüdern. Er erzählt, seine Brüder hätten in millionenschwere Bauprojekte investiert. Doch auch sie wurden verhaftet und in Lager gebracht und ihre Vermögen konfisziert. Faruks Geschichte ist typisch – fast jeder hier im Viertel kann eine ähnliche erzählen.

Rund 50.000 Uiguren leben in der Türkei – es ist die größte uigurische Diaspora weltweit. Nicht wenige sprechen von der Türkei als ihrer "zweiten Heimat". Manche Verbindungen mögen durch die Ideologie des Panturanismus, des grenzübergreifenden Türkentums vom Bosporus bis zum Tarim-Becken, Anfang des 20. Jahrhunderts propagandistisch überhöht worden sein. Doch die Ähnlichkeiten sind unverkennbar. Beide Völker praktizieren traditionell eher eine offene Variante des sunnitischen Islam, ihre Sprachen unterscheiden sich in etwa wie das Deutsche vom Niederländischen, auch Küche und Gebräuche ähneln einander. Isa Yusuf Alptekin, ein umstrittener Politiker, aber einer der wichtigsten Figuren uigurischer Autonomiebestrebungen, floh in den Fünfzigern in die Türkei und starb hier 1995. Begraben wurde er neben den türkischen Präsidenten Turgut Özal und Adnan Menderes.

Auffallende Stille

Auch Recep Tayyip Erdoğan, der sich sonst gern als Schutzherr aller Muslime weltweit stilisiert, hatte Peking noch 2009 scharf wegen seines Umgangs mit den Uiguren kritisiert. Als die KP 2009 einen Aufstand in Xinjiang brutal niederschlug, warf Erdoğan Peking "eine Art Genozid" vor.

Mittlerweile aber ist Erdoğan auffallend still geworden, wenn es um die uigurischen Flüchtlinge in der Türkei geht. 2017 unterzeichnete Ankara mit Peking ein Rückführungsabkommen, das aber bisher noch nicht vom türkischen Parlament ratifiziert worden ist.

Etwa 500 Menschen haben sich an einem kühlen Frühlingstag auf dem Beyazid-Platz vor der Istanbul-Universität versammelt. Sie stehen vor einem Halbkreis von Fotos und Collagen, die die Unterdrückung der Uiguren in China zeigen. Viele von Ihnen tragen Atemschutzmasken in den Farben Ost-Turkestans. Hinter den Bildern haben sich einige Männer aufgestellt, deren Gesicht komplett mit einer hellblauen Maske bedeckt ist. In einigen Metern Abstand warten rund 50 Polizisten in Kampfausrüstung. Doch die Demonstration, die heute an mehreren Orten Istanbuls gleichzeitig stattfindet, bleibt friedlich.

Einer der Demonstranten ist Kamran Aykol, ein junger, modisch gekleideter Uigure. Sein Vater schickte den heute 20-Jährigen vor vier Jahren in die Türkei, kurze Zeit kam auch er in ein Lager Chinas und verschwand für zwei Jahre. Aykol schlägt sich mit Gelegenheitsjobs, Geldüberweisungen seiner Familie und dem Dreh kleiner Videos durch. Sie zeigen Folterszenen aus den Lagern.

Unklare Gegenleistungen

Ende März war der chinesische Außenminister Wang Yi nach Ankara gekommen. Die Türkei erhält von Peking 50 Millionen Impfstoffdosen. Außerdem soll es um chinesische Investitionen in die türkische Infrastruktur gegangen sein. Über Gegenleistungen von türkischer Seite ist nichts bekannt. Erdoğan dürfte wie so oft lavieren, in der Hoffnung, das geostrategische Gewicht seines Landes ausspielen zu können. Noch nämlich kommen über 70 Prozent der Direktinvestitionen in der Türkei aus der EU. Vielleicht ist es auch um die Auslieferung der rund zwei Dutzend uigurischen Aktivisten gegangen, die derzeit in einem türkischen Gefängnis sitzen.

Faruk und auch Aykol haben Glück: Sie haben mittlerweile die türkische Staatsbürgerschaft erhalten. Ausgeliefert werden können sie nicht mehr. Bisher aber hilft dies Faruk aber nicht, seine beiden Töchter wiederzusehen. Es sind nun über vier Jahre, dass Faruk sie das letzte Mal gesehen hat. Von der türkischen Politik fühlt er sich nicht unterstützt. Es sei vor allem die rechte Iyi-Partei, die sich für die Uiguren einsetze. Seine Hoffnungen ruhen eher auf der EU und den USA.

"Wir überleben, aber richtig gut geht es niemandem hier", sagt er. "Jeder hat mindestens ein Familienmitglied, das derzeit in einem Lager in Xinjiang ist und zu dem der Kontakt völlig abgerissen ist." Hinzu kommen psychische Probleme. Seine Stimme wird brüchig: "Ich bin reizbar, schlafe schlecht. Meine Frau hat immer wieder psychische Zusammenbrüche." Auch das sei weitverbreitet in der Gemeinschaft. "Nur weil ich eine enge Beziehung zu Gott habe, denke ich nicht an Suizid", sagt Faruk. "Meine Religion verbietet das." (Philipp Mattheis aus Istanbul, 7.5.2021)