23. April, Riva del Garda: Felix Großschartner zeigt bei der Tour of the Alps für den Giro d’Italia auf.

Foto: imago images/Mario Stiehl

Behalten die Wetterfrösche recht, wird sich Felix Großschartner zumindest in der ersten Woche des 104. Giro d’Italia auf dem Weg von Turin in die Abruzzen zeitweilig pudelwohl fühlen. "Ich bin ein Schlechtwetterfahrer, ich weiß nicht, warum, vielleicht weil ich früher Skifahrer war. Mir haben schon minus 20 Grad auf der Piste wenig anhaben können", sagt der Welser vor seinem dritten Start in die Italien-Radrundfahrt am Samstag im Piemont.

Schon trainiert der Profi vom deutschen Team Bora-Hansgrohe lieber bei Sonnenschein und moderaten Temperaturen, im Rennen käme ihm der angesagte Regen, kämen ihm nur einstellige Plusgrade aber entgegen. Einerseits, weil diese Bedingungen vielen Konkurrenten im Feld so gar nicht entgegenkommen, andererseits aber, "weil es etwas Mystisches hat. Das schlechte Wetter macht die Sache irgendwie episch." So belieben Großschartner und Hendrik Werner, Trainer bei Bora, über Bedingungen zu scherzen, die den auf diesem Niveau gepflegten Radsport von der üblichen Qual in eine auch gefährliche Tortur verwandeln können.

Ein richtig guter Fuß

Zumeist sonnig ist dafür Großschartners Gemüt. Den insgesamt rund 3500 Kilometern, die zwischen 8. und 30. Mai zurückzulegen sind, sieht der 27-Jährige besonders gut gelaunt entgegen. Am 23. April gewann Großschartner in Riva del Garda die fünfte und letzte Etappe der exzellent besetzten Tour of the Alps, nachdem er schon auf dem dritten Teilstück der Giro-Generalprobe von Imst nach Naturns im Vinschgau Rang zwei belegt hatte. "Mein Gefühl vor der Tour war gar nicht so gut, aber vor der letzten Etappe habe ich schon gefühlt, ‚boah, heute habe ich einen richtig guten Fuß‘."

Grafik: APA

Der Sieg im Vorfeld des Giro überwältigt Großschartner auch fast zwei Wochen danach noch. Nur selten finde Österreichs professioneller Radsport schließlich auf diesem Niveau zum Erfolg. "Wir sind alle gut", gesteht er seinen Kollegen und sich selbst zu, "wir fahren regelmäßig in die Top Ten, aber fürs Gewinnen, da fehlt uns manchmal ein bisschen das Unbedingte." Wobei, unbedingt gibt es nicht. "Du bist für ein Ergebnis auf sehr viele Dinge angewiesen, auf die du keinen Einfluss hast. Es geht letztlich um meine beste persönliche Leistung."

Flucht als Chance

Die soll beim Giro idealerweise aber schon zum Gewinn einer Etappe reichen. Großschartner will am 30. Mai zur Handvoll Österreicher gehören, die ein Teilstück einer der drei großen Landesrundfahrten – Giro, Tour de France und Vuelta a España – gewinnen konnten. Der bisher letzte war Lukas Pöstlberger, der 2017 zur Verblüffung der Szene die erste Etappe des Giro für sich entschied. Im heurigen Bora-Kader für Italien scheint Großschartners oberösterreichischer Landsmann allerdings nicht auf. Der zweite Österreicher im Feld ist Matthias Brändle. Der 31-jährige Vorarlberger spitzt beim Team Israel Start-up Nation auf die beiden Zeitfahren und geeignete Fluchtgruppen.

Großschartners Giro-Plan ist noch ein wenig komplexer. Bei der 75. Vuelta hat der Kletterer im Vorjahr als Gesamtneunter mit moderaten 8:15 Minuten Rückstand auf den slowenischen Sieger Primož Roglič eindrucksvoll bewiesen, dass er nicht nur in einwöchigen Rundfahrten stabil im Spitzenfeld mitfahren kann. "Da habe ich gesehen, ‚hey, ich kann das!‘" In die Verlegenheit war Großschartner gekommen, weil Boras nomineller Rundfahrtkapitän Emanuel Buchmann mangels Form passen musste. Beim Giro ist der 28-jährige Deutsche trotz eher unauffälliger Frühlingsperformance wieder in der Führungsrolle. "Emu ist brutal selbstsicher." Großschartner soll "Emus" Back-up sein, also im Fall des Falles selbst auf die Gesamtwertung fahren. Darüber hinaus obliegt es ihm, neben Peter Sagan Prämien für die Mannschaftskasse einzusammeln.

Vom legendären, 31-jährigen Slowaken, der unter dem Mangel an Sprintankünften beim Giro leiden könnte, will sich Großschartner die Lockerheit abschauen. "Er strahlt etwas aus, das mir guttut. Er sieht das Rennfahren immer auch noch als Spiel. Bei dem Druck, den man hat, vergessen viele, wie schön es eigentlich ist, Radprofi zu sein."

Je besser die Form, desto größer die Freude an der Qual. Großschartner hat es nach der Tour of the Alps ein wenig ruhiger angehen lassen. Reduktion des Trainingsumfangs heißt drei bis vier statt fünf bis sechs Stunden täglich auf dem Rad.

Die spezielle Beschäftigung mit der Strecke des Giro passiert im Wesentlichen vor Ort, "die Etappen werden ja vor dem Start genau durchgegangen". Passagen abzufahren, lässt sich, zumal unter den Beschränkungen durch die Pandemie, kaum in den Terminplan integrieren. "Aber für Klassementfahrer kann es schon noch gut sein, wenn sie sich die entscheidenden Etappen auf der Straße anschauen", sagt Großschartner.

Schotter und Strapazen

Diesbezüglich interessant wird es beim heurigen Giro erst ab der zweiten Woche. Das neunte Teilstück ab Castel di Sangro durch die Abruzzen bietet am 16. Mai etwa einen Schlussanstieg auf Schotter zum Skigebiet Campo Felice in 1655 Meter Höhe. Die elfte Etappe drei Tage später führt zum Teil über toskanische Naturstraßen. Weitere drei Tage später, am 22. Mai, wartet die Bergankunft am Monte Zoncolan (1750 m), 20 Kilometer südlich der österreichischen Grenze am Plöcken. Von Sutrio aus sind auf 14 Kilometer verteilte 1190 Höhenmeter zu erstrampeln. Insgesamt wenig ist das gegen die Königsetappe. Auf dem 212 Kilometer langen Weg von Sacile über die Pässe Fedaia (2057 m), Pordoi (2239 m) und Giau (2233 m) nach Cortina d’Ampezzo sind es schließlich 5700 Höhenmeter. Drei weitere schwere Bergetappen erweitern den Speisezettel auf insgesamt 47.000 Höhenmeter. Das abschließende Zeitfahren über 30 Kilometer von Senago nach Mailand könnte trotzdem noch entscheidend werden.

Der Hai und die dicken Fische

Sentimentaler Favorit ist Vincenzo Nibali, einer von nur sieben, die alle drei großen Landesrundfahrten zumindest einmal gewonnen haben. Allerdings ist der "Hai von Messina" schon 36 Jahre alt und nach einem Handbruch gehandicapt. Bessere Chancen werden dem erst 22-jährigen Portugiesen João Almeida eingeräumt, der im Vorjahr 15 Etappen im Rosa Trikot des Gesamtführenden fuhr und dann Vierter wurde. Der Australier Jay Hindley musste sich 2020 gar erst am letzten Tag mit Rang zwei hinter Tao Geoghegan Hart bescheiden, der britische Titelverteidiger fehlt aber heuer. Schließlich will der Kolumbianer Egan Bernal, Tour-Sieger von 2019, nach einem schwachen Jahr wieder beweisen, dass er die Ineos Grenadiers, das vermutlich stärkste Team, wieder anführen kann. Epische Momente (täglich live auf Eurosport) sind garantiert – vielleicht auch für Felix Großschartner. (Sigi Lützow, 7.5.2021)

Etappenplan 104. Giro d'Italia vom 8. bis 30. Mai:

1. Etappe, 8. Mai:
Turin – Turin (8,6 km/Einzelzeitfahren)

2. Etappe, 9. Mai:
Stupinigi – Novara (179 km)

3. Etappe, 10. Mai:
Biella – Canale (190 km)

4. Etappe, 11. Mai:
Piacenza – Sestola (187 km)

5. Etappe, 12. Mai:
Modena – Cattolica (177 km)

6. Etappe, 13. Mai:
Grotte di Frasassi – Ascoli Piceno (160 km)

7. Etappe, 14. Mai:
Notaresco – Termoli (181 km)

8. Etappe, 15. Mai:
Foggia – Guardia Sanframondi (170 km)

9. Etappe, 16. Mai:
Castel di Sangro – Campo Felice/Rocca di Cambio (158 km/Bergankunft)

10. Etappe, 17. Mai:
L'Aquila – Foligno (139 km)

18. Mai:
Ruhetag

11. Etappe, 19. Mai:
Perugia – Montalcino (162 km)

12. Etappe, 20. Mai:
Siena – Bagno di Romagna (212 km)

13. Etappe, 21. Mai:
Ravenna – Verona (198 km)

14. Etappe, 22. Mai:
Cittadella – Monte Zoncolan (205 km/Bergankunft)

15. Etappe: 23. Mai:
Grado – Gorizia (147 km)

16. Etappe, 24. Mai:
Sacile – Cortina (212 km)

25. Mai:
Ruhetag

17. Etappe, 26. Mai:
Canazei – Sega di Ala (193 km/Bergankunft)

18. Etappe, 27. Mai:
Rovereto – Stradella (231 km)

19. Etappe, 28. Mai:
Abbiategrasso – Alpe di Mera (176 km/Bergankunft)

20. Etappe, 29. Mai:
Verbania – Valle Spluga/Alpe Motta (164 km/Bergankunft)

21. Etappe, 30. Mai:
Senago – Mailand (30,3 km/Einzelzeitfahren)

Gesamtdistanz:

3.480 Kilometer/47.000 Höhenmeter

Siegerliste der letzten 20 Jahre:

2000 Stefano Garzelli (ITA)
2001 Gilberto Simoni (ITA)
2002 Paolo Savoldelli (ITA)
2003 Gilberto Simoni (ITA)
2004 Damiano Cunego (ITA)
2005 Paolo Savoldelli (ITA)
2006 Ivan Basso (ITA)
2007 Danilo di Luca (ITA)
2008 Alberto Contador (ESP)
2009 Denis Mentschow (RUS)
2010 Ivan Basso (ITA)
2011 Michele Scarponi (ITA)*
2012 Ryder Hesjedal (CAN)
2013 Vincenzo Nibali (ITA)
2014 Nairo Quintana (COL)
2015 Alberto Contador (ESP)
2016 Vincenzo Nibali (ITA)
2017 Tom Dumoulin (NED)
2018 Christopher Froome (GBR)
2019 Richard Carapaz (ECU)
2020 1. Tao Geoghegan Hart (GBR) – 2. Jai Hindley (AUS) – 3. Wilco Kelderman (NED. Weiter: 8. Patrick Konrad (AUT) Bora – 10. Hermann Pernsteiner (AUT) Bahrain

* ursprünglicher Sieger Alberto Contador (ESP) wegen Dopings nachträglich disqualifiziert.