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Einer der wenigen positiven Aspekte von Extremereignissen wie der Corona-Pandemie ist, dass sie systemische Schwachstellen freilegen, aus denen sich im besten Fall für die Zukunft lernen lässt. Das gilt auch für die Effizienz von politischen Systemen und politischer Ethik. Diesen Themen hat sich der Historiker Michael Ignatieff seit Jahrzehnten verschrieben. Bei einer Veranstaltung der Central European University (CEU), deren Rektor er ist, diskutierte Ignatieff vergangene Woche, welche politischen Lehren sich aus der Corona-Krise ziehen lassen.

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Michael Ignatieff ist Rektor der Central European University.
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"Die langsame Durchführung der Impfungen in Europa ist eine Demonstration der Kluft zwischen dem europäischen Selbstverständnis und der Realität", sagt Ignatieff. "Die EU, Deutschland oder auch Österreich halten sich selbst für enorm kompetente, effiziente Gesellschaften mit einem großartigen öffentlichen Gesundheitssystem." Doch jetzt zeige sich, dass die Durchführung der Impfungen etwa in Großbritannien oder den USA viel rascher und effizienter vonstattengehe. Diese Kluft zwischen Selbstverständnis und Realität sei "wirklich ein Problem", sagt Ignatieff.

Ignatieff hat sich nicht nur akademisch und journalistisch mit Politik befasst. Von 2008 bis 2011 war er der Vorsitzende der Liberalen Partei Kanadas und somit Oppositionsführer. Nach Stationen an den Universitäten Cambridge, Oxford, Harvard und Toronto ist er seit 2016 der Rektor der CEU. Nach dem Rauswurf der CEU durch die Orbán-Regierung aus Ungarn, begleitete Ignatieff maßgeblich die Übersiedlung der Universität nach Wien.

Diskussion mit Michael Ignatieff über den Zustand der Demokratie in Europa. Video: CEU
Central European University

Politisches Blabla

Was Ungarns Umbau zu einer illiberalen Demokratie angeht, kritisiert Ignatieff scharf das "ungeheuere Blabla der Politiker in Europa zur Rechtssprechung. Die EU unternimmt so gut wie nichts dagegen, dass sich Ungarn zu einem autoritären Staat entwickelt." Dass die Demokratie in einigen osteuropäischen Staaten unter Druck gerät, könne langfristig gravierende Folgen haben. "Russland oder China können so an Einfluss gewinnen", sagt Ignatieff.

Als Beispiel dafür sei auch der Rausschmiss der CEU zu sehen: Statt der amerikanisch geprägten Universität soll in Budapest ein Standort der chinesischen Fudan-Universität eröffnet werden. "Das mag eine kompetente Institution sein, aber es ist keine freie Universität", sagt Ignatieff und mahnt: "Solche Entwicklungen ereignen sich an der Türschwelle zu Österreich."

Vertrauensverlust

Staaten mit Zügen zu Autoritarismus agieren auch in der Pandemie anders als demokratische Länder. "Die Covid-Krise erlaubt uns zu sehen, welchen Preis Gesellschaften für autoritäre Systeme zahlen", sagt Ignatieff. "In Russland ist es ganz klar, dass mehr Leute an Covid gestorben sind, als das Regime zugibt." Die Konsequenz sei, dass kaum jemand den Zahlen vertraue. Ebenso wenig gebe es Vertrauen in die Aussagen der Behörden. "Doch Vertrauen ist absolut zentral, um eine Gesundheitskrise eines solchen Ausmaßes zu überstehen", sagt Ignatieff.

Eine echte Herausforderung für Demokratien stelle auch der Klimawandel dar: "In demokratischen Systemen ist es viel einfacher, nichts zu tun als etwas zu tun. Das ist beim Klimawandel ein enormes Problem." (trat, 5.5.2021)