Prinzip Hoffnung: die deutsche Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky.

Foto: Heike Steiweg

Die Fremde also ist ein schönes Wort, poetisch und vielseitig, die Erkundung der Fremde gehörte zu den Pflichtübungen zumindest im männlichen Erwachsenwerden – und doch ist der Begriff voller Zweischneidigkeiten und Widersprüchlichkeiten, auch diese tief in der deutschen Sprache verankert, die im Kontext dieses Wortes mit so hässlichen Ausdrücken wie Fremdenhass und Überfremdung aufwarten kann. Wir alle wissen, dass es zweierlei Fremde gibt: Vertrauen gegenüber Neuland, in das man sich wagt – wagen darf –, Misstrauen gegenüber dem Anderen, Neugier auf Unbekanntes und Abwehr gegen Unvertrautes. Der zahlungskräftige Reisende wähnt sich auch im fremdesten Winkel der Welt willkommen und sieht doch gern seinen Steuergroschen in die Taschen der Frontex-Söldner fließen, die unbetuchte Fremdlinge fernhalten – zum Schutz der sogenannten Heimat, dem Gegenbild zur Fremde. Wie Fremde ist auch Heimat ein Wort, das es nicht in vielen Sprachen gibt, das an sich schön ist, doch getrübt und gespalten von Missbrauch und engem Anspruch zum Zweck der Ausgrenzung. Wer sich das Abenteuer Fremde leisten kann, kann sich auch eine Heimat leisten, könnte man vereinfacht sagen.

"Ich weiß noch
wie stolz ich war
als Kind in der Torah zu lesen
Einen Fremden sollt ihr
nicht bedrücken
und nicht bedrängen",

schreibt Erich Fried in seinem Gedicht Zwei Worte – ein schöner Anfang mit einer bitteren zweiten Strophe:

"und wie enttäuscht ich dann war
als ich lernte, dass das Wort FREMDER
– ger – im Hebräischen
nur einen Fremden bezeichnet
der zum Judentum
übergetreten ist."

Der gute, schonenswerte Fremde ist der dem Heimischen angepasste, der in die festen Formen der anerkannten Heimat Gezwängte, dem galt Erich Frieds Kritik nach der Erfahrung von dem Verlust von Heimatort, nächsten Menschen und selbstverständlich geglaubter Zugehörigkeit, einem Verlust, der ihn lebenslang die Partei der um ihre Heimat Gebrachten ergreifen ließ. Es ist keine Frage, welche Position er heute ergreifen würde, angesichts abgebrannter Flüchtlingslager, auf deren schutzlose Gefangene der Schnee fällt, oder der ertrunkenen Passagiere der Boote im Mittelmeer, deren Kentern die oben erwähnten Söldner tatenlos beobachten.

Erich Fried war der erste Dichter, den ich leibhaftig erlebte. Ich war dreizehn und sah ihn auf einem kleinen, politischen Poesiefestival, das aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnere, in eine kleine unscheinbare Stadt am Rhein verlegt worden war. Im Regen stand er auf dem Marktplatz dieser Kleinstadt und las seine Gedichte vor (...). Erich Fried war zweifelsohne der Star dieser Veranstaltung, ein kleiner, rundlicher Mann, dem alle andächtig im Nieselregen lauschten. Doch es war nicht nur der Kultstatus seiner Vietnamgedichte, der ihn zu etwas Besonderem machte, er war auch der Exilant von anderswo, der dieser Veranstaltung einen ganz besonderen Glanz verlieh, er war der Gast aus der Fremde, ein gebetener Gast, dessen Unheimischkeit man ihm der Sprache wegen nachsah, denn oberflächlich betrachtet hatte er diese Sprache ja gemein mit Veranstaltern, Dichterkollegen und Publikum, mit Kneipenbesitzern und den spärlichen Passanten in dieser Kleinstadt in einem aufschwungstrunkenen Westdeutschland, in dem man sich damals noch uneinig war, ob die aus Südeuropa angeheuerten Arbeitskräfte Gast- oder Fremdarbeiter genannt werden sollten. Doch er brachte etwas aus der Fremde mit, das seinen Worten ein anderes, dringlicheres Gewicht verlieh, eine Erfahrung des Fremdseins, eine an der Fremde gewachsene Sprache, die ihn von vielen anderen Dichtern unterschied.

Erich Fried selbst formulierte es einmal so: Ich hatte das Glück, in eine Zivilisation verschlagen zu werden, die den Fremden kaum heimisch werden lässt. So blieb mir meine Sprache erhalten, bereichert und zugleich bedroht und fruchtbar infrage gestellt durch die Möglichkeit des Abstandes vom Gebrauch und Missbrauch des Alltags. Diese Worte kannte ich damals noch nicht, hätte sie in meinem Alter damals auch sicher nicht so richtig verstanden, doch bin ich sicher, dass die Ausstrahlung seiner Texte etwas mit dieser bedrohten und bereicherten Sprache zu tun hatte, eine Unmittelbarkeit vielleicht, die sich ohne den abstumpfenden Zwang zum Alltagskonsens erhält. Haften geblieben ist mir vor allem sein Gesichtsausdruck, dieser Anflug eines melancholischen Lächelns, das stets, oft nur als Hintergrund anderer Mienen, auf seinem Gesicht lag, während er seine kurzen Texte las. Das Lächeln wies ihn aus als den, der am Rand stand, außerhalb, auch wenn andere ihn umringten. Es war 1970, eine Zeit, in der politisches Engagement unabdingbar erschien, auch für Dreizehnjährige. Es gab einen Konsens des Widerstands und die Hoffnung auf Veränderung, zum Beispiel im Umgang mit Fremde und Fremden, mit Heimat und Vergangenheit, eine Hoffnung, wie man sie zum Erwachsenwerden braucht, und mit dieser Hoffnung war Erich Frieds Name verbunden. (Esther Kinsky, ALBUM, 7.5.2021)