Die Mutter begegnet uns auch in der Literatur.

Collage: Der Standard

"Ich bin gekommen, um ein Interview mit dir zu machen. Das habe ich dir am Telefon gesagt, du warst einverstanden." Das sagt André Müller zu Beginn eines Treffens mit seiner Mutter Gerta: "Ja", sagt seine Mutter. Und der österreichische Journalist, der als begnadeter wie gnadenloser Interviewer bekannt geworden ist, weiter: "Es ist vielleicht merkwürdig, die eigene Mutter für eine Zeitung zu interviewen. Aber warum hast du zugestimmt?" Seine Mutter kommt ziemlich schnell auf Peter Handkes Buch Wunschloses Unglück, in dem es um den Selbstmord seiner Mutter geht. Das alles ist erst der Anfang eines sehr authentischen und unpathetischen Gesprächs zwischen Mutter und Sohn, das sich in dem Interviewband Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe! über 60 Buchseiten ausbreitet und in dem es, komplexer, als man es hier ausdrücken könnte, um das Leben seiner Mutter, die komplizierte Hassliebe zwischen Mutter und Sohn und um die Umstände von André Müllers Zeugung geht. Die Mutter weint, der Sohn fragt sie, ob sie getrunken hat. Das Gespräch findet 1989 in Wien statt. Irgendwann gehen die beiden ein Schnitzel essen.

Dieses Reden mit der Mutter, das hier zur Literatur geworden ist, ist eine schöne Inspiration. Es steht da wie eine Möglichkeit, es André Müller gleichzutun, sich eingehender mit der Geschichte der eigenen Mutter zu befassen. Zahlreich Autorinnen und Autoren haben das getan, zumindest versucht. Denn jeder oder jede hat oder hatte eine. Mütter begegnen uns überall. Nicht nur im Leben, sondern auch in der Literatur.

Literarische Aussöhnung

Allein in den zwei Büchern, die ich zuletzt gelesen habe, geht es auch ums Muttersein: Der neue Roman Daheim von Judith Hermann erzählt von einer 47-jährigen Frau, die als Mutter einer erwachsenen Tochter loslassen muss und von einem Leben in ein nächstes weiterwandert. Es geht aber auch um die Erinnerung an die eigene schmerzhafte Kindheit, um die Lieblosigkeiten schlechter Mütter und noch Schlimmeres. Helga Schuberts Vom Aufstehen liest sich wie eine literarische Aussöhnung mit einer solchen schlechten Mutter. Der Satz mit den "drei Heldentaten", die diese Mutter für sich selbst reklamiert, ist schon oft zitiert worden: "Ich habe dich nicht abgetrieben, (...) ich habe dich bei der Flucht in einem Kinderwagen geschoben (...). Ich habe dich nicht vergiftet oder erschossen (...)." Harter Mutter-Tochter-Tobak, den die 80-jährige Bachmannpreisträgerin in Literatur verwandelt.

Ich google "Mutter", das Wort – und bin kurz perplex. Klar, der Duden, aber so? "Substantiv: kleines Stück Metall (mit Loch)", steht da, "mit der man eine Schraube befestigt." Ich kann es kaum fassen. Und erst dann folgt auf die lockere Schraube: "Mutter, die" (Substantiv, feminin). Und unter 1a) "Frau, die ein oder mehrere Kinder geboren hat." Es folgen auch hier Beispiele – gehen wir sie durch: "Die eigene Mutter": Ich denke dabei an ein Foto meiner Mutter als junge Frau, Anfang zwanzig. Es ist Sommer, sie tanzt durch einen Garten mit Bäumen. Sie hat mir erzählt, wer dieses Foto aufgenommen hat. Ihre Haare flattern im Wind, sie spielt mit einem Umhang, sie sieht glücklich aus. Lange hing dieses Foto in ihrem Zimmer im Haus meiner Großeltern, das erst gebaut wurde, als meine Mutter schon mit der Schule fertig war. Ein Kinderzimmer, das sie nicht mehr beziehen wird, weil sie schon studiert, bald meinen Vater kennenlernt und mit mir schwanger wird. Wer war diese Frau? Was waren ihre Träume? Ihre Vorstellungen vom Leben? Wollte sie Mutter sein?

Mutter-Sein, Nicht-Mutter-Sein

Beispiel zwei: "Die werdende Mutter": Die US-Autorin Rachel Cusk schreibt in Lebenswerk. Über das Mutterwerden: "Dieses Buch soll ein Versuch sein, jene Ankunft zu beschreiben und das nachfolgende Drama, in dem die Entbindung nur der Auftakt ist." Ich muss an die Räume denken, die sich da auftun, für Geschichten zwischen großem Glück und tiefer Verzweiflung, die sich zutragen: bis es so weit ist, wenn es so weit ist, nie dazu kommt. An all die kleinen Wörter, die vor "schwanger" stehen können: gewollt, ungewollt. Die Dramen, die sich abspielen, wenn etwas ungeplant passiert oder nie geklappt hat.

Eine Frau will ein Kind, aber ihr Körper versagt es ihr. "Ich möchte ein Buch lesen, das mich tröstet", schreibt die Autorin Gertraud Klemm in ihrem Roman Muttergehäuse (2016) und kommt zu dem Schluss: "Das Buch, das mich tröstet, muss ich mir wohl selbst schreiben." Und sie hat das gemacht, hat den Entscheidungsmarathon, den Hürdenlauf bis zur geglückten Adoption ihres Kindes aufgeschrieben. Es ist ein unfassbar ehrliches Buch einer Frau auf dem Weg zur Mutterschaft: "Ich sammle Ungeborenes, Ungezeugtes. Leben, das sich verweigert. Ich sammle das Unglück der anderen."

Rezept für ein erfülltes Leben

Mutter Erde, Mutter Natur, Mutter Gottes: Der Duden im Netz hat weitere Wörter parat: Auch "die Mutter aller Schlachten". Ich denke dabei an die politischen Essays Rebecca Solnits, die in Die Mutter aller Fragen eine spezielle seziert: "Warum haben Sie keine Kinder?", das wurde die US-Autorin von Journalisten und Journalistinnen gefragt, so als wäre Mutterschaft der einzige Schlüssel zu einer weiblichen Identität: "Ich habe getan, was ich mit meinem Leben tun wollte, und das, was ich tun wollte, entsprach nicht dem, was meine Mutter oder die Interviewerin sich vorgestellt hatte. Ich wollte Bücher schreiben (...)." Die Rezepte für ein erfülltes Leben sollten unterschiedlich sein dürfen. Nie, nie, nie heißt das aktuellste Buch über das Nicht-Mutter-sein-Wollen, das von der Gesellschaft noch immer nicht so ganz akzeptiert wird: "Ich will keine Kinder, nicht mit ihm. Mit niemandem. Schon gar nicht mit mir selbst", schreibt die Schwedin Linn Stromsborg.

Vielleicht wird die computergenerierte Wörterwolke im Duden rund um das Wort Mutter in Zukunft anders aussehen? Noch stehen rund um sie folgende Begriffe versammelt: weinen, fragen, tot, kranke, Großmutter, erzählen, meinen, Sohn, berufstätig, leiblich, sagen, alleinerziehend, ledig, alleinstehend, Kind, Vater, Hausfrau, Ehefrau, rufen, Schwester, leben, sterben. Wo bleibt die Tochter, frage ich mich. Und wo bleibt das Glück? "Sogar diejenigen, deren Leben nach der perfekten Version des bekannten Handlungsstrangs verläuft, werden nicht unbedingt glücklich", schreibt Solnit und hält die Verteidigung der Ehe für weit überholt: "Der inbrünstige Glaube, der heterosexuelle Zwei-Eltern-Haushalt sei für Kinder etwas geradezu magisch Tolles, sitzt tief in zu vielen Teilen dieser Gesellschaft."

Muttermal und Muttertag

Wir landen bei: "Die alleinerziehende Mutter". Im Zsolnay-Verlag ist vor kurzem der Roman der französischen Autorin Carole Fives auf Deutsch erschienen, der auf nur 140 Seiten das stille Drama um eine alleinstehende Mutter eines zweijährigen Sohnes ausrollt und uns in diese äußerst ausweglose Lebenslage mitnimmt, in der sich die Protagonistin zum Überleben Kleine Fluchten, so der Romantitel, gönnt. Dann, wenn das Kind nachts, hoffentlich, schläft. "Das Kind schnarcht leise, als sie die Wohnungstür hinter sich zuzieht", schreibt die Autorin wie in einem Krimi über eine nicht lieblose, sondern überforderte Mutter und lenkt den Roman zielsicher, aber an anderer Stelle als vermutet, in Richtung Femizid, sprich Frauenmord, ein erschütterndes Thema, vor allem im Moment auch für Österreich.

Assoziationsketten: Was zieht die Mutter alles nach sich? Zumindest als Wort im Wörterbuch. Ich scrolle und notiere, erratisch, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. "Mutterbild", ja das verändert sich, langsam. "Mutterglück", das gibt es. Es ist vergänglich. Wer je in Joan Didions trauriges Manifest Blaue Stunden gelesen hat, weiß das noch eindringlicher. Dieses Buch ist ein geschriebener Gedenkstein für ihre Tochter Quintana. Die ganze Geschichte vom Anfang bis zum traurigen Ende, von: "Sie wurde in den ersten Stunden des dritten Märztages 1966 geboren (...). Am späten Nachmittag desselben Tages wurde uns mitgeteilt, dass wir sie adoptieren könnten" bis zu: "Noch gibt es keinen Tag ihres Lebens, an dem ich sie nicht sehe."

"Mutterherz", notiere ich. Es bricht, wenn Kinder sterben. Das Wort "mutterlos" klingt wie mutlos. Wir wissen und verdrängen es: Menschsein, Muttersein, Kindsein ist immer auch mit Krankheit, mit Tod verbunden. Die Schweizer Schriftstellerin und Ärztin Melitta Breznik hat in Mutter eine Chronologie des Sterbens ihrer eigenen aufgeschrieben. Die Französin Justine Lévy schreibt in Schlechte Tochter: "Mama ist tot, ich bin Mama, (...) so einfach ist das, das ist die Geschichte von uns dreien." Überall in ihrem Kind hat die Mutter ihre Spuren hinterlassen. Beim Wort "Muttermal" denke ich an die Hand meiner Mutter, die am rechten Ballen ein Feuermal trägt. Als Kind dachte ich, dass ich da selbst reingebissen hätte, meine Mutter markiert. Meine Mama. Daran würde ich sie immer erkennen, mein Mal. Ich kann diese Hand halten und meine Mutter, das Muttermal anschauen.

Liebe von und zu Müttern

Ich scrolle runter: "Muttersöhnchen". Ich muss noch einmal an den Interviewband von André Müller, der 2011 mit 65 Jahren verstorben ist, zurückkommen. Auf die Frage "Fühlen Sie sich von Ihren Eltern geliebt?" antwortete ihm der Modeschöpfer Karl Lagerfeld 1996: "Meine Mutter war eine kühle, aber sehr amüsante Frau. Sie war 42, als ich geboren wurde. Sie hatte bis dahin nur eine Tochter, sie wollte unbedingt einen Sohn. Sie hasste Frauen. Also nahm sie die Qual der Schwangerschaft noch einmal auf sich, um einen Jungen zu kriegen. Unsere Beziehung war distanziert, aber voll Liebe." Wir erzählen uns Geschichten, Geschichten über die Liebe von oder zu unseren Müttern.

Von Georges Simenon, dem bekannten Schriftsteller der Maigret-Romane, der übrigens im selben Jahr verstorben ist, in dem André Müller seine Mutter Gerta interviewte, erschien 1974 schon der Brief an meine Mutter. Simenon beginnt ihn folgendermaßen: "Meine liebe Mama, es ist nun etwa dreieinhalb Jahre her, dass du einundneunzigjährig gestorben bist, und vielleicht lerne ich dich jetzt allmählich kennen." Maigret war ein Sohn, der seine Mutter nie davon überzeugen konnte, dass er in der Lage ist, von seiner Arbeit zu leben. Mehr noch: dass er erfolgreich ist. Was will ich sagen? Es ist nie zu spät. Ach ja, das Wort "Muttertag": Der ist einmal im Jahr und ein guter Anlass, um ein paar ausgezeichnete Bücher zu lesen und sich dabei Gedanken über die eigene Mutter zu machen, mit ihr zu reden oder ihr einen Brief zu schreiben. Ganz unabhängig davon, ob sie schon tot oder noch am Leben ist. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 9.5.2021)