Ob bewusst oder unbewusst, Erwartungen prägen unser Leben. Bei einem jungen Menschen kommt mit dem Lehrantritt wahrscheinlich die Erwartung über die wirtschaftliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, bei einer Studienanfängerin die Erwartung, ein höheres Einkommen durch einen höheren Bildungsabschluss zu erzielen oder einfach nur die Welt ein Stück weit besser zu verstehen.

Neben diesen langfristigen Entscheidungen helfen uns Erwartungen aber auch bei kurzfristigeren Entscheidungen: einen Nebenjob anzunehmen, um das Studium zu finanzieren, unter der Woche zu sparen, um sich am Wochenende ein nettes Abendessen leisten zu können, oder frei verfügbares Geld in Wertpapiere zu investieren, um zu einem zukünftigen Zeitpunkt eine Rendite zu kassieren. Für viele dieser Entscheidungen interessieren sich auch Ökonominnen und Ökonomen: All jene Entscheidungen, die durch einen zwischenzeitlichen Kompromiss gekennzeichnet sind, werden von Erwartungen beeinflusst.

Ein Beispiel: Die Entscheidung darüber, ein Gut heute oder morgen zu kaufen, hängt von der erwarteten Inflation ab. Statt dieses Gut heute zu kaufen, könnte man das Geld ansparen, einen Zins erwirtschaften und morgen kaufen. Wenn die erwartete Preissteigerung höher ist als der Zuwachs durch den Zins, spart man sich durch den bewusst heute gewählten Zeitpunkt des Kaufes Geld. Doch wie bilden wir Erwartungen? Wie so oft in der Ökonomie lautet die Antwort: It depends.

Fallbeispiel Lockdown und Corona-Krise

Um Erwartungsbildung zu illustrieren, bietet sich ein Beispiel der jüngeren Vergangenheit an, das jeden Menschen in irgendeiner Art und Weise betroffen hat: die Corona-Krise und die mit ihr einhergehenden Lockdowns. Erinnern Sie sich zurück an die ersten Märzwochen des Jahres 2020: erste Corona-Fälle in Österreich, große Unsicherheit über das weitere (politische) Vorgehen, Hamsterkäufe in den Supermärkten, langsame Einstellung des Flugbetriebs und die Schließung der Grenzen. Die Gerüchte über einen Lockdown verdichteten sich, und dieser wurde schließlich mit 16. März 2020 verhängt.

Wie haben Sie persönlich reagiert? Vermutlich: intensives Händewaschen, kaum die Wohnung oder das Haus verlassen und keine Treffen mit Freunden oder Verwandten. Diese starke Reaktion auf den ersten Lockdown spiegelte sich auch in den Mobilitätsdaten wider. Wenn wir nun jedoch auf den zweiten Lockdown ab 3. November blicken, so sehen wir einen schwächeren Rückgang der Mobilität.

Eine mögliche Erklärung findet sich in der Art und Weise, wie Menschen Erwartungen bilden. Die allgemeine Unsicherheit über das Virus und seine möglichen Auswirkungen war im März recht hoch, und der Schock darüber, sich nun in einer globalen Pandemie zu befinden und leben zu müssen, musste erst einmal verarbeitet werden. Da die individuellen Ansteckungsrisiken unbekannt waren, kam es zu überschießenden Erwartungen, um eine Ansteckung zu vermeiden. Dies schlug sich in Handlungen wie der strikten Befolgung des Lockdowns und der ärztlichen Empfehlungen (Händewaschen et cetera) nieder. Wenn wir an den zweiten Lockdown und an die Situation im Herbst zurückdenken, so war die Situation eine andere. Die Ansteckungsrisiken waren nun besser einschätzbar, die Krankheit und mögliche Therapieformen besser erforscht als noch im Frühjahr. Daher erreichte der zweite Lockdown zwar ebenfalls seine erwünschte Wirkung, eine Reduktion der Infektionszahlen; die Mobilitätsdaten zeigen aber keinen so drastischen Rückgang mehr.

Im ersten Lockdown kam es zu intensiven Hamsterkäufen – als Reaktion auf ungewohnte, neue Informationen und überschießende Erwartungen.
Foto: APA/dpa/Rene Traut

Erwartungshypothesen

In der Wirtschaftswissenschaft ist die Annahme sogenannter rationaler Erwartungen weit verbreitet. Dieser Ansatz wurde von John F. Muth 1961 in einem Forschungspapier entwickelt und vom späteren Nobelpreisträger Robert E. Lucas in makroökonomische Modelle integriert. In ihrer Kernaussage besagt diese Theorie, dass Erwartungen über zukünftige Gegebenheiten nicht systematisch falsch sind. Dies ist aus einer mathematischen Sichtweise äußerst elegant, setzt jedoch voraus, dass die Wirtschaftssubjekte Kenntnis über das ökonomische Modell besitzen.

Aufgrund dieser starken Annahme steht dieses Theoriegerüst naturgemäß in der Kritik. In dem kürzlich erschienen Buch A Crisis of Beliefs, das auf einer Reihe von Forschungspapieren basiert, entwickelt sich ein neuer Erwartungsbildungsansatz, jener der diagnostischen Erwartungen. Dieser Ansatz kommt aus dem Forschungsprogramm der Verhaltensökonomik und stützt sich auf die Repräsentativitätsheuristik der Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky.

Grundsätzlich beschreibt eine Heuristik eine Verhaltensweise, die mit begrenzter Information und in kurzer Zeit zu praktikablen Lösungen führt. Die Repräsentativitätsheuristik im Speziellen ist eine Urteilsheuristik, in der die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses anhand eines repräsentativen Merkmals beurteilt wird. Ein Beispiel: Bevor Sie weiterlesen, geben Sie eine Schätzung über den Anteil der rothaarigen Menschen in Irland ab!

Liegt Ihre Vermutung irgendwo zwischen 20 und 40 Prozent? Laut der Repräsentativitätsheuristik passiert Folgendes in Ihrem Kopf: Sie stellen einen Vergleich mit einer repräsentativen Bevölkerung an (zum Beispiel der österreichischen Bevölkerung), bei der der Anteil rothaariger Menschen niedriger ist als in Irland – dies entspricht dem bekannten Stereotyp, dass Iren öfter rothaarig sind. Dadurch überschätzen Sie wahrscheinlich den tatsächlichen Anteil rothaariger Irinnen und Iren – dieser liegt bei etwa zehn Prozent.

Zurück zum Lockdown

Wenn wir nun zum Lockdown-Beispiel zurückkommen, so lässt sich der oben beschriebene Ansatz nützen, um das menschliche Verhalten zu erklären. Da sich der neue Zustand (erster Lockdown) stark vom alten, repräsentativen Zustand (Alltag vor Corona) unterscheidet, reagierten viele Menschen über und passten ihr Handeln dementsprechend zu stark an. Beim zweiten Lockdown im November gab es bereits mehr Informationen über das Virus, und das Verhalten hatte sich schon an das Leben in der Pandemie angepasst. Der neue Zustand (zweiter Lockdown) unterschied sich nicht mehr so stark vom nun alten, repräsentativen Zustand (New Normal). Daher reagierten die Menschen nun weniger intensiv und passten ihr Verhalten nicht mehr ganz so stark an – wie sich aus den Mobilitätsdaten ablesen lässt.

Allgemein begegnen Menschen neuer Information, die in einem krassen Gegensatz zu jener davor steht, oft mit einer Überreaktion. Je stärker diese Veränderung der Umweltzustände, desto stärker auch die (Über-)Reaktion. Dieser Anpassungsmechanismus der überschießenden Erwartungen ist hierbei durchaus nützlich und dient in unserem Beispiel dem Schutz vor einer Erkrankung mit Covid-19. Mit der Zeit gewöhnen sich Menschen an das Leben in der Pandemie und den damit einhergehenden Lockdowns und passen sich an. Dies erklärt auch, warum sich die Effekte von Lockdowns als politische Maßnahme mit der Zeit abnützen. Unbeachtet ist bei diesen Erklärungen natürlich die Frage nach der an sich optimalen Verhaltensweise in einem Lockdown, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.

Erwartungsbildung im wirtschaftlichen Alltag

Rationale Erwartungen benötigen neben der Kenntnis des ökonomischen Modells auch noch vollständige Information. In manchen Situationen des ökonomischen Handelns mögen diese Annahmen erfüllt sein – man denke an einen Autokauf: Man holt möglichst viele Informationen über den Wunschwagen ein, wägt Finanzierungsmöglichkeiten ab und trifft eine unter diesen Informationen rationale Entscheidung –, in manch anderen nicht – möglicherweise greifen Sie im Supermarkt eher zu einem Markenprodukt, weil Sie eine Werbung dafür gesehen haben, und nicht zum billigeren, qualitativ gleichwertigen Produkt daneben.

Besonders interessant wird es am Finanzmarkt, auf dem der Handel von Wertpapieren oft innerhalb kurzer Zeit erfolgen muss. Dies spricht stark unsere eher kurzfristig orientierten, emotional gesteuerten Gehirnareale an, im Gegensatz zu den eher langfristig und rational entscheidenden Bereichen des Gehirns. Es gibt daher unter vielen Umständen Abweichungen vom Modell der rationalen Erwartungen. In der Wirtschaftswissenschaft stellt dies einen nützlichen Vergleichsmaßstab dar, doch es bleibt die Aufgabe der evidenzbasierten Wissenschaft, herauszufinden und zu verstehen, wie Menschen sich Erwartungen über die Zukunft bilden. Für eine erste Näherung ist das Modell sicherlich geeignet, doch Menschen bedienen sich unterschiedlichster Mechanismen, um Erwartungen zu bilden, abhängig von der jeweiligen Situation und ihrer Erfahrung.

Dieses Verständnis über Erwartungsbildung hat weitreichende Konsequenzen für die Ausgestaltung von Politikmaßnahmen. Das hier wohl plakativste Beispiel ist die Stabilisierung des Euros nach der "Whatever it takes"-Rede von Mario Draghi. Und am Beginn des ersten Lockdowns versicherten Supermarktketten sowie die Politik, dass die Versorgung mit Waren des alltäglichen Bedarfs sichergestellt sei. Dadurch wurden Erwartungen über eine drohende Lebensmittelknappheit zerstreut und weitere Hamsterkäufe erfolgreich vermieden. (Maximilian Böck, 11.5.2021)